Ratlosigkeit, Angst und Zorn

Ralf Dahrendorf ist der Altmeister der Gegenwartsanalyse. Letzte Woche las ich von ihm unter dem Titel “Die Revolution bleibt aus!” eine Kolumne, die mir angesichts der ersten Ergebnisse zur Wahl ins Europäische Parlament unweigerlich wieder in den Sinn kommt.

14455789
Ralph Dahrendorf, vormals EU-Kommissar, Soziologe, analysierte letzte Woche die Stimmungslage in Europa treffend

Die Grundstimmung beschrieb der liberal eingestellte, in der Oeffentlichkeit sehr präsente Soziologe so: Die Welt wird durch die Wirtschaftskrise geschüttelt. Doch steckt sie nicht in einer revolutionären Situation. Es gibt keine Energie der Veränderung. Denn es überwiegt die Ratlosigkeit. Sie ist gepaart mit Angst. Und diese verbindet sich mit Zorn.

Diese Mischung, sagt der Professor für sozialen und politische Theorie, kann jederzeit explodieren, wo auch immer. Das soll aber nicht darüber hinweg täuschen, dass die realen Aussichten für die meisten BürgerInnen nicht rosig sind. Und das nicht nur für den Moment.

Dahrendorf, vormals EU-Kommissar für Deutschland, verglich in der Kolumne die jetzige Stimmungslage mit der der 30er Jahren des 20. Jahrhunderts Mustergültig erarbeitet worden seien die Reaktionsweisen der Arbeiterschaft nicht durch Karl Marx, sondern durch Marie Jahoda. Wer galubte, es folge die Zeit des Aufbruchs, liege falasch. Denn damals wie heute überwog und überwiegt die Resignation. Und die ist keine politisch gestaltende Kraft. Maximal eine der Abrechnung.

Die Resultate zur Wahlbeteiligung, mit 43 Prozent ein historischer Tiefstwert (und gar noch tiefer als bei schweizerischen Parlamentswahlen!), aber auch die Ausschläge bei den Parteien lassen kaum einen anderen Schluss zu.

Claude Longchamp