Die unvernünftige Vernunft

Die Krise auf den Finanzmärkte zwingt Investoren zu Lernprozessen und die Wirtschaftswissenschaft zur Hinterfragung ihrer Entscheidungstheorien. Das täte beispielsweise auch der Wahlforschung gut, die im Schwang der unkritischen Gedankenlosigkeit mitgegangen ist.

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Daniel Kahneman, Professor für Psychologie an der Princeton Universität, 2002 mit dem Nobelpreis für Wirtschaftswissenschaften ausgezeichnet.

“Die weitaus schwächste Aktie der Welt ist jene der Logik AG, denn ihre Gesetze werden von der Börse nie verfolgt”, wetterte einst der Börsenguru André Kostolany. Mehr als der Vernunft folge die Börse der Erwartung, und in die mische sich der Herdentrieb.

Daniel Kahneman, der israelisch-amerikanische Psychologe, der 2002 als Nicht-Fachmann den Wirtschaftsnobelpreis erhielt, hat sich solchen Fragen angenommen und den rational handelnden Akteur, von dem die Oekonomie so gerne ausgeht, durch ein psychologisch determiniertes Subjekt ersetzt.

Ausgangspunkt von Kahnemans Ueberlegungen ist, dass sich die meisten Menschen für gute Autolenker halten, ihr Handeln rationalisieren und sich so überschätzen. Bei Männern kommt das typischerweise mehr vor als bei Frauen.

Das trifft auch auf Investoren zu. Zu deren grossen Fehlern gehört die Ueberreaktion im Moment. Kurzfristiger Aktivismus sei, sagt Dahneman, gerade in Zeiten der Unsicherheit, kein guter Ratgeber. Denn er wird durch Angst und Ueberreaktion bestimmt. Diese wiederum seine nicht unerheblich, weil soziale Ansteckung die Börse reagiere, wie der Herdentrieb in der Wissenschaft genannt wird.

Institutionelle Anleger sind, so die Forschung, von diesen Probleme etwas weniger befallen als private. Das hat mit ihrem gegenüber privaten Anlegern erhöht strategischen Verhalten zu tun, müssen sie doch ihre Entscheidung stärker begründen, und sind sie, wegen der Ausdrücklichkeit und Schriftlichkeit von Entscheidungen, kritisierbarer. Damit wächst die Chance von effektiven Lernprozessen statt nachträglichen Rationalisierungen.

Diese Einsicht in der empirischen Wirtschaftsforschung ist so gut, dass man sie auch in der Wahlforschung anwenden sollte. Denn da hat (dank dem Herdentrieb?) der rational-choice-Ansatz zwischenzeitlich eine zentrale Stellung inne. Unverkennbar sind seine Verdienste bei der Analyse individualistischer Entscheidungen; problematisch ist aber, wenn das tel quel mit vernünftigem Entscheiden gleichgesetzt wird, handelt es sich doch nicht um nicht mehr als wissenschaftliche Rationalisierungen.

Claude Longchamp