Thesen zu “Volkswille und Sachverstand” in der Schweiz

Die Schweizer Monatshefte beschäftigten sich anfangs 2007 unter dem Titel “Volkswille und Sachverstand” mit der Politikberatung in der Schweiz. Vorangegangen war eine Tagung des Vereins für Zivilgesellschaft, einem Netzwerk von Tito Tettamanti, das PolitikerInnen wie ExpertInnen vereinigt. Der Chefredaktor der “Monatshefte” fasste die Diskussion in 12 Thesen zusammen, und 10 prominente Vertraute, Handelnde und Experten (in) der “Expertokratie” der Schweiz verfassten ihren Standpunkt in eiNEm Essay zusammen.

Schweizer Monatsheft, dem Liberalismus verpflichtet, erörtern in einem Themenheft die Politikberatung in der Schweiz
Die Schweizer Monatshefte, dem Liberalismus verpflichtet, erörtern in einem Themenhaft die Politikberatung in dier Schweiz.

Ich gebe hier die Thesen der 10 Beiträge als Diskussionspapier wieder.

(1) Tito Tettamanti: Sollen Fachleute uns regieren?

Die anspruchsvollen Aufgaben einer modernen staatlichen Infrastrukturpolitik sind ohne fundiertes Fachwissen nicht mehr zu lösen. Die Verantwortung für politische Grundentscheide und Weichenstellungen darf aber in einer Demokratie trotzdem nicht an Experten delegiert werden.

(2) Bernd Schips: Sachkompetenz versus Konsenssuche

Politikberatung zielt häufig an der Realität der politischen Entscheidungsprozesse vorbei. Wissenschaftliche Analysen und Lösungsvorschläge schlagen sich nicht direkt in konkreten politischen Massnahmen nieder. Sie können aber durchaus die Politik mittel- bis längerfristig nachhaltig beeinflussen. So sollten Experten vorausdenken und nicht politische Kampagnen begleiten.

(3) Carlo Schmid: Direktdemokratie schützt vor Expertokratie

Das politische System der Schweiz ist weniger anfällig für expertokratische Unterwanderung als ein rein parlamentarisches System, bei dem nur eine politische Elite überzeugt werden muss. Das Volk entscheidet nach Werthaltungen und Ordnungsvorstellungen, die sich nicht mit dem Sachverstand von Experten decken müssen.

(4) Katja Gentinetta: Expertisen und Gegenexpertisen

«Expertokratie» ist ein Begriff mit abwertendem Unterton. Kritisiert wird etwa die Selbstreferentialität der Expertenberichte. Dagegen schützt eine Öffentlichkeit, die Gegenexpertisen einfordert und verschiedene Standpunkte kritisch zur Kenntnis nimmt.

(5) Meinhard Miegel: Wer führt in der Demokratie?

Dem Souverän fehlt es an Führungs- und Kontrollkompetenz, dem Bürger an Fachkenntnis und dem Politiker an Mut zu unpopulären Entscheidungen. Gute Politik braucht mehr Sachkompetenz.

(6) Klaus M. Meyer-Abich: Warum wir nicht tun, was wir wissen

Auch Demokratien erliegen der Versuchung, politische Entscheidungen wissenschaftlichen Experten zu überlassen. Diese Anfälligkeit hat viel mit den Beschwer-lichkeiten des politischen Entscheidungsprozesses zu tun, aber auch mit den Eitelkeiten der Wissenschaft.

(7) Roland Vaubel: Realistische Politikberatung

Der Politiker hat keine Zeit und oft wenig Sachkenntnis, der Bürokrat andere Interessen, der Bürger versteht die Argumente nicht. Der Politikberater agiert in einem Markt, in dem eine Nachfrage nach neuen Ideen oft gar nicht definiert ist.

(8) Martin Lendi: Thinktanks, Institutionen politischer Innovation

Die Ansprüche an Thinktanks können nicht hoch genug sein. Wenn sie die kritische Distanz behalten und Übersicht in den Sachfragen mit politischer Weitsicht verbinden, dann sind sie eine notwendige Ergänzung zu einer Politik, die von taktischem Denken im Rahmen der Wahlperioden bestimmt wird.

(9) Charles B. Blankart: Tote haben keine Lobby

In der Schweiz herrscht Organmangel, weil dem Organspender keine Rechte zukommen und dem Staat die alleinige Verfügungskompetenz über die Organe zugesprochen wird. Der Skandal beim neuen Transplantationsgesetz liegt in der passiven Haltung der politischen Verantwortungsträger, die sich der Bundesbürokratie anschlossen, statt auf unabhängige Experten zu hören.

(10) Thomas B. Cueni: Patente, Schutz ohne Ausgrenzung

Der Schutz des geistigen Eigentums ist ein liberaler Imperativ. Die biotechnologischen Erfindungen stellen die nationalen Patentschutzgesetze vor neue Herausforderungen. So nährt sich der Revisionsprozess des schweizerischen Patentrechts von emotionalen Konflikten, aber auch von Kompromissen.

Man merkt es schnell beim Lesen: Die vertretenen Standpunkte sind breit gestreut. Sie reflektieren nicht selten die Interessen der AutorInnen. Die Zusammenstellung versteht sich denn auch nicht als Aufarbeitung des Ist-Standes, sondern als perspektivische Standpunkte in einer laufenden Diskussion.

Claude Longchamp

Die einzige ausgearbeitete aktuelle Studie zur Politikberatung in der Schweiz stammt von Martin Lendi., der oben schon erwähnt wurde. Sie ist nicht unbestritten, lässt sie eigentlich nur die wissenschaftliche Politikberatung zu.

Weiterführende Literatur vor allem aus Deutschland gibt es hier. Da kann man sich auch zur Politikberatung durch nicht Uni-Beschäftigte vertiefen.