Verantwortungsethik statt Eigennutzenmaximierung

Mit einem Satz über das “fehlende Unrechtsbewusstsein” der Schweiz in Sachen Bankgeheimnis hat er die wohl grösste Kontroverse über Wissenschaft und Politik, die in letzter Zeit in der Schweiz stattgefunden hat, ausgelöst. PolitikerInnen, Professorinnen, Rektoren und JournalistInnen handelten den Fall ab. Jetzt äussert sich Ulrich Thielemann, Wirtschaftsethiker an der Universität St. Gallen, über das Grundsätzliche an der Debatte.

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Die Erschaffung der “Göttin DS” wäre nur nach ökonomischen Gesichtspunkte nie geschehen, kritisiert der St. Galler Wirtschaftsethiker Ulrich Thielemann die vorherrschende Sichtweise in den Wirtschaftswissenschaften und der Ausbildung von ManagerInnen.

In einem längeren Interview im “Magazin” definiert sich Thielemann als Aufklärer, der seit längerem Forschung zur Wirtschaftsethik betreibe, sie auch im Praktischen anwende, wei sie nicht l’art pour l’art bleiben solle.

Sinnbildlich dafür ist seine Interpretation der Entstehung der französischen DS, denn als die Firma Citroën daran ging, einen Nachfolger für den Traction Avant zu finden, habe man den Ingenieuren gesagt, ihr habt alle Freiheiten, macht, was ihr wollt. Heraus kam das bekannte, flunderartige Fahrzeug, die Göttin “Deesse”, voll von mehr oder minder nützlichen Innovationen, bei denen sich die Ingenieure austoben konnten. Das Kunstwerk sei nur möglich, weil der ökonomische Gesichtspunkt nicht der Einzige war.

Die Ursache der gegenwärtige Krise, so der Wirtschaftsethiker, sei die Entfesselung der Gier im Namen der Marktgläubigkeit. Entstanden sei sie mit der Gewinnmaximierung zugunsten von Investoren als einzige legitime Anspruchsgruppe. Doch dazu gebe es heute eine Gegenbewegung, die im Theoretischen beginne. Denn was man als Gier bezeichne, habe in der in der Oekonomie lange als rational gegolten. Grund dafür sei, dass die Wirtschaftswissenschaft zur Wissenskirche verkommen, keine Wissenschaft mehr senn. Denn anders als in der Psychologie oder Soziologie, sei der Pluralismus widerstreitender Denkschulen in der Oekonomie weitgehend verschwunden.

Gelernt werden müsse heute wieder, was Integrität heisse, denn das eigene Erfolgsstreben hänge von der Legitimierbarkeit ab. Verantwortung müsse an den Universitäten wieder gelehrt und gelernt werden.

Verantwortungsethik alleine werden jedoch nicht genügen. Wichtiger noch sei die Ordnungsethik, die verantwortungsvolles Handeln stütze. Damit seien in erster Linie die Gesetze des Rechtsstaats gemeint, die als institutionelle Rückenstützen wirken würden. Denn ohne Ordnungsethik sei der Verantwortungsbewusste rasch der Dumme. Das zu verhindern, sei die Aufgabe der Politik.

Thielemann gibt sich ungern prognostisch, glaubt aber, wir seien mit der gegenwärtigen Krise in eine neue Zeit unterwegs. Die Marktgläubigkeit sei als allein selig machendes Paradigma gescheitert. Der Markt brauche auf allen Stufen Begrenzungen. Das sei nur in der Theorie etwas neues. Denn das Menschenbild des Homo œconomicus, der Mensch also, der alles zu seinem Eigennutzen maximiert, sei nicht nur moralisch nicht rechtfertigungsfähig, sondern entspreche auch nicht dem Selbstverständnis eines normal sozialisierten Menschen.

Oder noch deutlicher: Der Kern des Problems ist das entgrenzte Erfolgstreben, doziert Thielemann. Denn das verletze den kategorischen Imperativ. Im «Reich der Zwecke», in der humanen Gesellschaft also, hat alles «entweder einen Preis — oder Würde», formulierte dies Immanuel Kant.

Claude Longchamp