Die Lehren aus den Aargauer Wahlen

Das Ergebnis der Wahlen im Kanton Aargau überraschte eigentlich alle. Grund genug, um über lieb geworden Fehleinschätzung nachzudenken und realistischere Arbeitshypothesen für die künftige Wahlanalyse zu entwickeln. Ein erster Versuch.

knecht
Uebersicht über Analysen, Prognosen und Ergebnisse der Grossratswahlen im Kanton Aargau nach Max Knecht

Wahlprognostiker im Abseits

Er ist im Kanton Aargau der Wahlprognostiker par exellence: Zwischen 1965 und 1985 war Max Knecht Grossrat, und 1973/4 präsidierte das CVP-Mitglied das aargauische Parlament. Schon als Politiker machte er gerne Prognose, sodass er für die Aargauer Medien als willkommener Wahlaugur aufstieg.

2009 versagte seine bisher recht erfolgreiche Methode. Das Problem lag nicht einmal am doppelten Pukelsheim, den Knecht als einziger sauber analysierte. Demnach hätten allein deswegen die SVP 4, die SP 3 und die CVP 1 Sitz verlieren müssen. 3 wären an die Grünen, 2 an die SD und je 1 an die EVP, die EDU und übrige gegangen.

Doch die politischen Veränderungen schätzte Knecht ziemlich falsch ein. Er erwartete reale Verluste für die SVP und die FDP, Gewinne für die GLP und BDP, während die SP, CVP und Grüne über die Veränderungen wegen der Aenderung beim Sitzverteilungsschlüssel hinaus bis auf maximal eine Mandatsverschiebung stabil bleiben würden.

Die Resultate im Ueberblick
Das Ergebnis der Wahlen kann stichwortartig wie folgt zusammengefasst werden:

. Die SVP legte an Stimmen zu und kompensierte fast alle Verluste wegen dem Pukelsheimer.
. Auch die Grünen wurden unterschätzt, denn sie legten bei den WählerInnen zu und machten auch real Sitzgewinne.
. Marginal besser als von Knecht erwartet schnitt schliesslich die neue BDP ab.
. Klar überschätzt wurde dagegen die SP, die Wählende verlor und weit über den veränderten Sitzverteilmechanismus Mandate einbüsste.
. Das gilt, abergeschwächt auch für die CVP und EVP.
. Letztlich lag der Prognostiker nur bei der FDP und den Grünliberalen richtig.

Die wichtigste Schlussfolgerung lautet: Makroökonomische Analysen der Politik versagen als kurzfristige Prognosen. Vielmehr braucht es eine Analyse der Mechanismen innerhalb der Parteienlandschaft. Selbst erfahrene Wahlanalytiker können sich dabei heute täuschen, wenn sie zu stark auf Referenzwahlen, Umfragen und zu wenig auf eigene Ueberlegungen abstellen.

Die Botschaften des Wahlergebnisses
Ich halte die für mich wichtigsten Botschaften aus den jüngsten Aargauer Wahlen fest.

Erstens, die SVP gewinnt trotz vermehrtem Wettbewerb in ihrem politischen Umfeld. Es haben sich aber die Gewinnesprünge verkleiner.
Zweitens, die SP kann trotz Profilierung vor dem Hintergrund der Finanzkrise nicht zulegen, denn sie kann mit der Konkurrenz der Grünen und Grünliberalen nicht umgehen.
Drittens, Das Zentrum schwächelt fast unverändert, was neuen Parteien Platz bietet.

Eine kritische Analyse der Fehlüberlegung führt zu allererst zur Wahlbeteiligung. Sie lag bei den jüngsten Grossratswahlen mit 31,7 Prozent sehr tief, noch tiefer als bei der Parlamentserneuerung 2005, als sich 33,2 Prozent beteiligten. Sie war damit auch tiefer als am 30. November 2009 resp. am 8. Februar 2009, als die Aargauer Regierung gleichzeitig mit eidg. Volksabstimmungen bestimmt wurde.

Die vierte Botschaft lautet damit: Die Mobilisierung ist für den Wahlausgang massgeblich.

Neue Arbeitshypothesen für die Wahlanalyse
Man kann daraus die folgenden neuen Arbeitshypothesen für Wahlanalysen und -prognosen ziehen:

Erstens, die SVP hat die beste innere Mobilisierung. Sie richtet ihren Wahlkampf konsequent darauf aus. Damit polarisiert sie bei den Wählenden anderer Parteien, doch kann sie damit Wechselwählen zu Konkurrenten verhindern, und vor allem hält sie die Beteiligung ihrer Wählerschaft unabhängig vom allgemeinen Trend vergleichsweise hoch. Das sichert ihr Stabilität auch unter erschwerten Bedingungen.

Zweitens, Rotgrün kann sich bei äusserer Mobilisierung insgesamt halten. Ohne das zuerst hat die SP jedoch ein Problem. An den Wettbewerb mit anderen Parteien um die gleichen Wählenden hat sie sich noch nicht gewöhnt. Sie wirkt auch im Erscheinungsbild wie aus der Epoche davor. Das ist bei den Grünliberalen, die im Aargau ganz neu auftreten, überhaupt nicht der Fall, was ihnen Stimmen sowohl im rotgrünen Lager, wie auch im Zentrum einbringt. Es ist aber auch bei den Grünen nicht so, die für oppositionelle Linkswählende konsequenter als die SP wirken.

Drittens, ohne überragende Persönlichkeiten als Zugpferde kann man im Zentrum nicht punkten. Die CVP konnte sich 2005 im Aargau gegen diesen Trend stellen, als die damalige Parteipräsidentin der CVP Schweiz, die Aargauer Nationalrätin Doris Leuthard, den Wahlkampf anführte, ohne für den Grossen Rat gewählt werden zu können. Fiktive Kandidatur in diesem Stil lassen sich jedoch nicht einfach wiederholen; Wahlgewinne, die daraus resultierten auch nicht. Die personellen Schwächen dahinter werden wieder deutlich sichtbar, und sie eröffnen Spielräume für neue Parteien, sich erfolgreich zu bewerben.

Oder anders gesagt: Die besten Prognosen sind die, die nicht eintreten, weil man vorher handelt. Die zweitbesten Prognosen sind die, die nicht eintreffen und zum Nachdenken darüber führen, was die Fehlannahme im common sense waren.

Claude Longchamp