Analyse der Abstimmung über das Transplantationsgesetz

Selber denke ich, die Vorlage mit dem revidierten Transplantationsgesetz wird sicher angenommen.

Um was es geht
In den vergangenen fünf Jahren haben in der Schweiz im Schnitt jährlich rund 450 Menschen eines oder mehrere Organe einer verstorbenen Person erhalten. Der Bedarf an Organen ist allerdings deutlich grösser.
Eine Transplantation ist heute nur möglich, wenn die verstorbene Person der Spende zu Lebzeiten zugestimmt hat (Zustimmungslösung). Der Wille der betroffenen Person ist aber häufig nicht bekannt. Dann müssen die Angehörigen entscheiden. In der Mehrheit der Fälle sprechen sie sich gegen eine Organspende aus.
Die Behörden möchten die Lebenschance von Patientinnen und Patienten erhöhen. Dafür wollen Sie die Organspende neu regeln: Wer seine Organe nicht spenden möchte, muss dies zu Lebzeiten festhalten (Widerspruchslösung). Hat eine Person nicht widersprochen, wird davon ausgegangen, dass sie Organspende zulässt.
Gleichwohl werden in diesem Fall die Angehörigen einbezogen. Sie können eine Organspende ablehnen, wenn sie wissen oder vermuten, dass die betroffene Person sich dagegen entschieden hätte. Sind keine Angehörigen erreichbar, dürfen keine Organe entnommen werden.
Personen ab 16 Jahren können ihren Willen zur Spende wie bis anhin selbständig festhalten. Bei unter 16-jährigen Personen entscheiden weiterhin die Eltern. Sie haben bei ihrem Entscheid jedoch die Meinung des Kindes zu berücksichtigen.

Die Fronten
Bundesrat und Parlament befürworten die Vorlage. Im Nationalrat stimmten 141 dafür, 44 dagegen. Im Ständerat lautete das Ergebnis 31 zu 12.
Dagegen ist aus rechtskonservativen Kreisen erfolgreich das Referendum ergriffen worden. Deshalb kommt es am 15. Mai zur Volksabstimmung.
In der Oeffentlichkeit werden die Behörden durch Bundesrat Alain Berset vertreten.
Das Nein markieren EVP und EDU. Es wird damit gerechnet, dass sich auch die SVP dem anschliesst. Alle anderen Parteien haben eine breite Allianz gebildet und unterstützen die Behördenposition.
Unterstützt wird die Ja-Seite deklariert durch die Berner Agentur furrerhugi.
Gegen die Vorlage ausgesprochen haben sich auch kirchliche Kreise. Bei einem Nein wollen sie eine Erklärungslösung als Kompromiss zwischen dem Status Quo und der Neuregelung ins Spiel bringen.
Das geänderte Transplantationsgesetz ist ein Gegenvorschlag zur Volksinitiative «Organspende fördern – Leben retten». Auch diese verlangt den Wechsel zur Widerspruchslösung, regelt aber die Rolle der Angehörigen nicht. Sie wurde unter der Bedingung zurückgezogen, dass das geänderte Transplantationsgesetz in Kraft tritt. Bei einem Nein entscheidet das Initiativkomitee neu, ob es zu ihrem Anliegen zu einer weiteren Volksabstimmung kommt.

Der Abstimmungskampf
Die Behörden argumentieren vor allem mit dem Mangel an Organspenden. Gegenwärtig gestehen Wartelisten mit knapp 1500 Personen. Um das zu beheben, hat der Bundesrat 2013 einen Aktionsplan lanciert, und damit Fortschritte erzielt. Eine weitere Verbesserung verspricht man sich von der erweiterten Widerspruchslösung wie man sie aus dem Ausland kennt.
Das Referendumskomitee argumentiert, das Gesetz sei verfassungswidrig; diese garantiere das Selbstbestimmungsrecht und die körperliche Integrität. Eine Organentnahme ohne aktive Zustimmung sei unethisch. Das Gesetz belaste zudem die Angehörigen unnötig. Schliesslich dürfe der Mensch nicht zum Ersatzteillager der Medizin werden.
Die zentrale Konfliktlinie ist kultureller Natur. Es geht um eine ethische Frage, die zwischen einer progressiven und einer konservativen Sichtweise polarisiert.

Analysetools
Zwischenzeitlich liegen sieben Tools vor, die den Stand der Meinungsbildung oder den Ausgang der Abstimmung analysieren. Alle rechnen mit einem Ja. Das gilt für die Umfragen, als Momentaufnahmen gedacht, die Hochrechnungen der Schlussabstimmung im Nationalrat resp. des Parolenspiegels, die Inhaltsanalyse des Abstimmungsbüchleins und ein erstes Kombi aus verschiedenen Tools. Sie alle verstehen sich als Prognose. Etwas dazwischen sind ist die Wahlbörse, doch auch sie geht von einer klarer Zustimmung aus.

Vergleichsabstimmungen
Ein direkter Vergleich mit früheren Abstimmungen muss ausbleiben. Immerhin stimmt die Schweiz mehrfach über ähnliche Vorlagen an, die zwischen Vorteilen für Medizin und PatientInnen einerseits, konservativen Moralvorstellungen polarisierten. Aehnlich war die Konstellation namentlich bei der Abstimmung über den Verfassungsartikel zur Fortpflanzungsmedizin und Gentechnologie im Humanbereich. Ihr stimmten schliesslich 62 Prozent zu, ebenso 18.5 Kantone.
Das gilt eigentlich für alle denkbaren Vergleiche. Der Ja-Anteil war immer mehrheitlich, und zwar zwischen 60 und 90 Prozent.
Dafür spricht auch eine Umfrage zur Organspende von 2019, die eine rund 80prozentiges Einverständnis zeigte.

8.4.2022