Mutationen in der Post-Covid-Politlandschaft

Wie verändert sich die politische Landschaft in der Post-Covid-Ära? Meine Erwägungen zu Mutationen, die 2021 am Horizont sichtbar wurden.

Rekordverdächtige Zahl an Gesetzreferenden
Sean Müller, Politik-Professor an der Universität Lausanne, sieht bei Referenden einen grossen und anhaltenden Trend. Denn die Zahl erfolgreicher Unterschriftensammlungen je Legislaturperiode nimmt seit 2007 laufend zu. Im jetzigen Abschnitt zwischen zwei Wahlen werden seiner Meinung nach bis zu 20 Referendumsabstimmungen möglich.
Seit den jüngsten Wahlen 2019 hat die Schweiz bereits über 12 Gesetzesreferenden abgestimmt. Acht davon gingen aus, wie es die Behörden vorgeschlagen hatten. Vier wurden vom Stimmvolk verworfen, so das Jagdgesetz, die erhöhten Kinderabzüge, die elektronische Identifizierung und das CO2-Gesetz.
Über zwei weitere Referenden stimmt die Schweiz am 12. Februar 2022 ab. Konkret geht es um die Abschaffung der Stempelsteuer, von links her bestritten, und das Paket zur erweiterten Medienförderung, wo die Opposition von rechts kommt.
2022/2023 könnten weitere Volksabstimmungen zu Parlamentsbeschlüssen dazu kommt. Denn beim Filmgesetz und bei der Organspende wird von rechts her mobilgemacht. Und von links ist man gegen die finanzielle Unterstützung der EU-Organisation «Frontex» aktiv. Allerdings harzt hier die Unterschriftensammlung, sodass die Abstimmung offen ist.
Angekündigt sind zudem zwei weitere linke Unterschriftensammlungen: Die Gewerkschaften treten, sekundiert von SP und Grünen, gegen die Reform AHV21 an, weil sie das Frauenrentenalter 65 bringt. Und bei der Abschaffung der Verrechnungssteuer will die SP voraus gehen, sucht aber noch weitere Unterstützer:innen.
Damit ist klar: Die hohe Kadenz an Referendumsabstimmungen hält vorerst an. Ihre Zahl in der Vorperiode wird schon jetzt übertroffen. Bleiben wird 2023 voraussichtlich nur der Allzeit-Rekord, zwischen 1991 und 1995 aufgestellt. Damals löste die EWR-Entscheidung eine neue Polarisierung der Schweizer Politik aus. Der Konsens sank, die Bereitschaft zu Kraftproben stieg.

Neue Bruchlinie ja oder nein?
Da stellt sich die Frage, ob wir heute wieder den Anfang einer neuartigen Konfliktlinie erleben? Denn die Pandemie spaltet die Schweiz zusehends.
Doch anders als 1992 sind weiterhin Mehrheiten sichtbar, welche die Regierung stützen. Beim Covid-19-Gesetz war das 2021 gleich zweimal der Fall. Ganz anders beim EWR-Beitritt, als die Behörden kein Volks- und auch keine Ständemehr erreichten.
Mit Sicherheit wird man erst im Nachhinein beurteilen können, ob es heute zu einer neuen Bruchlinie kommt. Im Voraus nennt die Theorie drei Anforderungen:
Erstens, eine tiefe und anhaltende Spaltung, die nicht nur die Politik, sondern auch die Gesellschaft erfasst.
Zweitens, die Formierung neuer Identitäten, die mit den bisherigen Akteuren nicht abgedeckt werden.
Drittens, die Ausbildung von Organisationen, welche die (Ab-)Spaltung strukturieren.
Testläufe für eine neue Opposition kündigen sich an. Am 13. Februar 2022 tritt bei den städtischen Parlamentswahlen in Zürich eine Liste an, die sich ausdrücklich auf die Massnahmen-Gegner:innen stützt. Dennoch zweifle ich, dass die Bedingungen 1 und 3 erfüllt sind. Am ehesten gegeben ist der zweite. Denn das Impfen polarisiert. Eine eigentliche Widerstandsbewegung ist entstanden. Ob sie jedoch stabil organisiert werden kann das Parteiensystem verändern wird, muss erst noch erwiesen werden.
Politisch ist die (Ab-)Spaltung zwar da, gesellschaftlich ist sie aber zu vielfältig, um eine klar ersichtliche Linie zu haben. Faktisch verstecken sich hinter dem Nein zum Covid-19-Gesetz so verschiedene Gruppen wie die Verlierer:innen der Pandemiemassnahmen, Fundamentalist:innen bei der Auslegung von Grundrechten, Impfgegner:innen, Verschwörungserzähler:innen, Esoteriker:innen, rechte Extremist:innen und ganz einfach trotzige Menschen. Eine übergeordnet, positiv gerichtete Identität sehe ich nicht.

Belebte sozialistische und libertäre Weltanschauungen

Trotzdem hat sich der weltanschauliche Horizont 2021 akzentuiert. Gleichzeitig gestärkt worden ist der Glaube an die Notwendigkeit staatlicher Massnahmen einerseits, die libertäre Kritik am Staat anderseits.
Die erwachte linke Opposition gegen die herrschende Finanz- und Sozialpolitik wird 2022 und vielleicht auch darüber hinaus wichtiger werden, als es sich die Schweiz gewohnt ist. Die Kontroversen rund um das Gesundheitswesen sind typisch dafür. Und sie sind nicht zu unterschätzen. Denn eine funktionierende Infrastruktur im Gesundheits- und Schulbereich sind die Stützen des Vertrauens in den Staat.
Die Volksabstimmungen über die Kinderzulage zeigten in Ansätzen, war bei der Pflegeinitiative voll durchschlug: Stopp zu Steuerprivilegien resp. Ja zum Ausbau im Gesundheitswesen sind mit der Pandemie mindestens punktuell mehrheitsfähig geworden. Fortgesetzt wird diese Opposition mit dem Nein der Linken zum Abbau der Stempelsteuer und voraussichtlich auch bei der AHV21-Revision.
Nach der Volksabstimmung zur «No Billag» Initiative 2018 verschwanden libertäre Forderungen weitgehend aus der Öffentlichkeit. Doch hat die Pandemie sie wiederbelebt. Bei Jungfreisinnigen, unter Medienschaffenden und bei jüngeren Menschen finden sie neuerdings mehr Beachtung. Eine eigentliche Bewegung ist daraus nicht geworden, eine respektable Strömung jedoch allemal.
Bei der Volksabstimmung über das Medienpaket wird sich zeigen, wie stark der neue Verbund ist. Fortgesetzt wird dieser Kampf bei der voraussichtlichen Volksabstimmung zur Filmförderung, von den Kritiker:innen, populär “Lex Netflix” genannt. Ziel ist es, eine rechtsbürgerliche Politik ausgehend von der nächsten Generation zu verankern und die staatskritischen Parteien SVP und FDP darum herum zu versammeln.
Zwei Folgerungen kann man jetzt schon anstellen: Je polarer linke und liberale/libertäre Kräfte antreten, umso mehr Raum entsteht im Zentrum für die GLP. Und umso geringer ist die Stabilität der Regierungszusammensetzung in der Schweiz.

Claude Longchamp, Politikwissenschafter