Stempelabgabe: recht offen, was bis zur Abstimmung geschieht

Am 13. Februar 2022 stimmt die Schweiz über die Aufhebung der Stempelabgabe ab. Die Vorlage entspricht einem klar liberalen Ziel hinter dem sich die bürgerlichen Parteien sammeln. Doch haben die Opponent:innen von links das Referendum ergriffen. Und, es gibt gute Gründe, warum die Vorlage angenommen, aber auch warum sie abgelehnt werden könnte.


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Die Ausgangslage
Unternehmen brauchen Kapital, beispielsweise um Investitionen zu tätigen oder Verluste zu decken. Wenn ein Unternehmen Eigenkapital beschafft, indem es Aktien oder dergleichen ausgibt, erhebt der Bund eine Steuer, die sogenannte Emissionsabgabe von einem Prozent des aufgenommenen Kapitals. Da die Steuer erst auf Beträgen über einer Million Franken erhoben wird, bezahlen kleine Unternehmen keine solche Abgabe.
Bundesrat und Parlament wollen die Emissionsabgabe abschaffen. Das senke die Investitionskosten, was sich positiv auf Wachstum und Arbeitsplätze auswirke. Zudem kämen Unternehmen mit viel Eigenkapital besser durch Krisen als Unternehmen mit wenig Eigenkapital, weil sie mehr Reserven haben.
Mit der Abschaffung entstünden dem Bund Mindereinnahmen von schätzungsweise 250 Millionen Franken pro Jahr. Die Hälfte davon würde auf Entlastungen für die 55 grössten Unternehmen in der Schweiz zurückgehen.
Gegen die Vorlage wurde das Referendum ergriffen, weil aus Sicht der Gegner:innen vorwiegend Grossunternehmen profitieren würden. Ein Komitee aus SP, Grünen und Gewerkschaften hat 57’520 gültige Unterschriften zusammengebracht.

Allgemeine und spezifische Aussichten des aktuellen Referendums
Wenn das Referendum ergriffen wird, werden die Gesetze in rund sechs von zehn Fällen angenommen, in vier von zehn Fällen scheitern sie. Der Ausgang ist also an sich recht offen. Scheren zwei Regierungsparteien aus, wird es kritisch. Liegen die Fronten quer zu den Parteilinien, kann die Mehrheit ebenfalls kippen.
Im Nationalrat gab es 120 Ja- und 79 Nein-Stimmen für die Abschaffung. Im Ständerat waren 29 dafür, 14 dagegen.
Die Polarisierung war hart. Die SVP, FDP, DieMitte und glp waren ganz oder grossmehrheitlich dafür. Die SP und die Grünen waren geschlossen dagegen. Unterstützung fanden sie bei den drei EVP-Vertreter:innen in der Mitte Fraktion. Der Frontenwechsel einer Partei ist unwahrscheinlich.
Hochgerechnet ergibt das Ergebnis im Nationalrat einen Schätzwert von 58% Ja-Stimmen zu 42% Nein-Stimmen für die Volksabstimmung.

Frühere Reformen, die gelangen resp. misslangen
Auf Bundesebene gibt es die Stempelabgabe seit 1973. Eingeleitet wurde die Reduktionspolitik 1992. Doch scheiterte dies in der Volksabstimmung. 2011 leitete das Parlament auf Vorschlag der FDP einen neuen Versuch der Abschaffung ein. Die Grundidee war, Unternehmen, die auf Weltmärkte ausgerichtet sind, steuerlich zu entlasten. Das entsprach dem Zeitgeist, die Schweiz für die Globalisierung fit zu halten.
Zwischenzeitlich ist das umstrittener. Die Schweiz ist das globalisierteste Land der Welt, und Nachteile werden spürbar. So führen Steuerausfälle direkt oder indirekt zu Sparprogrammen mit dem Abbau öffentlicher Dienstleistungen. Das zeigte sich beispielsweise, als 2017 die dritte Reform der Unternehmenssteuern misslang. 59 Prozent der Stimmenden votierten dagegen.
Zu den Gründen dafür das Scheitern der letzten grossen Steuerreform zählte, dass sich zuerst Städte, dann auch Kantone und schliesslich sogar Gemeinden der opponierenden Linken anschlossen und so das einfache ökonomische Links/Rechts-Muster durchbrachen. Das Nein entwickelte sich entsprechend erst im Verlaufe des Abstimmungskampf.

Erwartungen für den Abstimmungskampf
Die Parteien sind dabei, Stellung zu beziehen. Dabei zeichnet sich eine Wiederholung dessen ab, was im Parlament geschah.
Man kann mit einer Ja-Parole bei SVP, FDP, DieMitte und glp rechnen und mit einer negativen Empfehlung bei SP, Grünen und EVP. Damit käme die Ja-Allianz auf einen Wählenden-Anteil von 59 Prozent. Stimmen ihre Anhänger:innen geschlossen Ja, geht die Vorlage durch.
Im Abstimmungskampf dürfte die Bewältigung der Pandemie und ihrer Folgen eine wichtige Rolle spielen. Das Ja-Lager kann argumentieren, die Wirtschaft müsse in der Post-Corona-Phase wieder in Fahrt gebracht werden, wofür Steuererleichterungen ein geeignetes Mittel seien. Die Opposition wiederum kann darauf insistieren, die sozialen Gegensätze seien mit der Pandemie grösser geworden. Die Reichsten seien noch reicher geworden, während Unter- und Mittelschichten knapper dran seien.
Das erschwert die Zuordnung der Stimmen im Link/Rechts-Schema etwas.

Keine eindeutige Prognose aufgrund des Abstimmungsbüchleins
Interessant in aktuellen Fall, dass das Prognose-Tool «Stellus» keine eindeutige Vorhersage macht. Erstellt wird sie aufgrund einer Inhaltsanalyse des amtlichen Abstimmungsbüchleins.
Gerechnet werden jeweils zwei Modelle: Eines, das qualitative Aussagen macht, eines das für quantitative Analysen geeignet ist. Das erste Modell kommt zum Schluss, die Abschaffung der Stempelabgabe werde angenommen, das zweite besagt jedoch, der Ja-Anteil betrage 48 Prozent.
Nach Angabe des Autors ist ein solcher Unterschied ein seltener Fall, der etwa einmal auf knapp 20 Prognosen vorkommt.

Szenarien der Meinungsbildung
Der Abstimmungskampf hat noch nicht begonnen. Er wird kurz und heftig sein. Für die Analyse der Meinungsbildung wird man am besten mit zwei Szenarien arbeiten:
. Im Normalszenario beginnt die Vorlage mit einer eher knappen Zustimmungsmehrheit, die sich mit der Dauer der Kampagnen erhöht. Denn anfänglich Unentschiedene verteilen sich auf beide Seiten. Final wird die Vorlage in diesem Fall angenommen.
. Auch im Ausnahmeszenario startet die Vorlage mit einer knappen Ja-Mehrheit. Doch kommt es im Abstimmungskampf zu einem Meinungswandel vom Ja ins Nein, der von links her meist konservativen Menschen in der Mitte und rechts erfasst. Der Ausgang ist hier offen, selbst eine Ablehnung ist möglich.
Bekannt ist, dass die Mobilisierung mitentscheidet, welches Szenario zum Tragen kommt. Stimmen vor allem Menschen mit hohem Regierungsvertrauen ab, ist die erste Variante wahrscheinlicher. Je mehr misstrauische Bürger:innen ihre Stimme abgeben, um so eher kommt es zum zweiten Szenario.

Die Bedeutung der Abstimmung für die SP
Die SP war bei der Lancierung des Referendums federführend. Sie stellt ihren Kampf gegen die Abschaffung der Stempelabgabe in einen grösseren Kontext. Co-Präsident Cédric Wermuth sieht seine Aufgabe in dieser Legislaturperiode darin, einen Staatsabbau von rechts zu verhindern. Dafür ist die SP bereit, auch gegen andere Vorlagen mit dem Referendum vorzugehen, so bei der AHV-Reform, bei der Senkung des Umwandlungssatzes beim BVG und weiteren.
Ein Abstimmungssieg am 13. Februar 2022 würde dieser linken Opposition Auftrieb verleihen. Eine Niederlage dürfte die SP in arge Schwierigkeiten bringen. Es ist deshalb zu erwarten, dass die SP in diesem Abstimmungskampf alles geben wird.

Erste Zwischenbilanz
Ich denke, es macht Sinn, den Ausgang vorerst offen zu lassen, wenn auch mit leichten Vorteilen für die Ja Seite. Mit den ersten Umfragen wird man das prüfen und gegebenenfalls präzisieren können.

Claude Longchamp