Party government als Instrument der Analyse von Volksentscheidungen

«Party Government» ist ein zentrales Konzept der Politikwissenschaft, um den effektiven Stellenwert der politischen Parteien in einer Demokratie zu messen. Ausgangspunkt ist die Stärke der Parteien bei den letzten Parlamentswahlen, denn sie verteilt die staatliche Macht. Parteienherrschaft meint, dass die parlamentarische Repräsentation auch die Vertretung von Parteien in anderen Bereichen regelt.

Zu den interessanten neuen Fragestellungen des längst bekannten Konzepts gehört die Anwendungen auf Entscheidungen in der direkten Demokratie. Eike-Christian Hornig hat mit seiner Dissertation dazu einen wichtigen Beitrag geliefert.
Vergangene Woche hat der deutsche Politikwissenschafter, der neuerdings Senior Research Fellow am Lichtenstein-Institut ist, seine weiterentwickelten Ueberlegungen in meinem Forschungsseminar am Institut für Politikwissenschaft der Universität Bern vorgestellt und gemeinsam mit den Master-Studierenden diskutiert.

Die Ergebnisse für die die Schweiz
Hornigs Ausgangspunkt waren die zahlreichen Forschungsbeiträge aus der Schweiz, welche etwa die Bedeutung der Parteiparolen betonen. Das macht den Ansatz plausibel. Zudem argumentiert er nicht mikroanalytisch wie Umfragen. Vielmehr ist er makroanalytisch ausgerichtet. Das macht die Anwendung einfacher.
Untersuchungen in zahlreichen Ländern mit direktdemokratischen Verfahren belegen den Wert des Konzepts gerade für die Schweiz. Die Werte für die Uebereinstimmung von Abstimmungs- und Wahlergebnissen sind überdurchschnittlich hoch und bewegen sich durchwegs in der Spitzengruppe. Nachweislich ist die Kongruenz über die Zeit sogar gestiegen.
Forscher Hornig zog im Seminar folgenden Schluss: Bei Verfassungsabstimmungen funktioniert das Konzept gut, sein Nutzen ist ok. Bei Gesetzesreferenden ist das etwas weniger der Fall.

Der Gegensatz zum common sense
Hornigs Befunde stehen im Gegensatz zu mehr intuitiven Diagnosen vor allem in den Massenmedien. Demnach ist die Steuerungskraft der Parteien bei Volksentscheidungen am Sinken. Wenn sich das empirisch widerlegt ist, stellt sich automatisch die Frage, ob sich die Parteien nach der vermuteten Mehrheit oder ihrer programmatischen Position richten.
Selbst wenn es Beispiele für politischen Opportunismus der Parteien gibt, verallgemeinerungsfähig ist die Annahme nach Hornig nicht. Hauptgrund dafür ist, dass mit der Polarisierung die Positionierung der Parteien von den Polen her in den vergangenen Jahrzehnten eindeutiger geworden ist, allenfalls im Zentrum etwas weniger klar ausfällt.
Parteienherrschaft existiert auch in der Schweiz; Volksabstimmungen führen nicht zu ihrem Ende.
Meine Ergänzung
Aus meiner Erfahrung muss man insbesondere das Regierungsvertrauen als weitere erklärende Variable hinzunehmen. Ist es hoch, funktioniert «party government» besser, ist sie tief, wenig. Das ist namentlich bei Gesetzesreferenden der Fall. Es hat damit zu tun, dass in solchen Momenten mediale Stimmungen, politische oder soziale Bewegungen zum Tragen kommen, welche die Steuerungskraft der Parteien rasch relativieren können.
Typische Beispiel dafür waren die jüngeren Volksabstimmungen über die eID, die Kinderabzüge oder die das Jagdgesetz. Jedes Mal war die von links Opposition in der Volksabstimmung stärker als der Wählenden-Anteil der Parteien mit Nein-Parolen. Bei den Verfassungsabstimmungen kann man auch das Verhüllungsverbot beiziehen, denn da ergab sich, wenn auch von rechts, der gleiche Mechanismus.
Auffällig ist dabei, dass die jüngsten Beispiele für eine gegenwärtig etwas verminderte Parteienherrschaft in der Schweiz alle in die Zeit der Corona-Bewältigung fallen. Denn da ist die Unzufriedenheit mit der Regierungspolitik mindestens phasenweise erhöht gewesen, und die Zahl der namentlich zivilgesellschaftlichen Bewegung aus der (asusserinstitutionellen) Opposition heraus ist offensichtlich gestiegen. Das gilt wohl auch für die anstehenden Abstimmungen!