Das große Coming-out. Meine Analyse der eidg. Volksabstimmung zur „Ehe für alle“ vom 26. September 2021

Ersterscheinung auf #swissinfo, 27. September 2021, 16 Uhr

Die Schweiz stimmte am Wochenende zugunsten der “Ehe für alle”. 64,1 Prozent der Stimmenden waren dafür. “Weltrekord”, könnte man ausrufen! Denn bis jetzt waren die 62 Prozent aus Irland 2015 der höchste Wert in einer Volksabstimmung zur Öffnung der Ehe für gleichgeschlechtliche Paare.

Keine räumlichen Gräben, aber Generationenwandel
Ja-Mehrheiten gab es in allen Sprachregionen der Schweiz. 65 Prozent waren es in der deutschsprachigen Schweiz, 63 Prozent in der Suisse Romande. Nur der italienische Sprachraum blieb mit 53 Prozent etwas zurück. Nach allen Corona-Diskussionen um eine gespaltene Schweiz verzeichnete das Land wieder einmal eine geeinte Willensäusserung.
Die verbliebenen Differenzierungen spiegeln die Entwicklungen der jeweiligen Nachbarn. Frankreich ging mit der “Ehe für alle” 2013 voraus; 2017 folgte Deutschland und 2019 Österreich. Italien aber blieb bis jetzt auf Distanz und beliess es bei der eingetragenen Partnerschaft.
In der Schweiz wiederum blieb gestern selbst der viel beschworene Stadt/Land-Graben weitgehend zu. Die Kernstädte unterstützten die Gesetzesneuerung mit 72 Prozent, die ländlichen Gebieten bejahten sie mit 58 Prozent.
Eine Spezialauswertung des Westschweizer Fernsehens sah Gegensätze im Einzelfall: In Zürich war man zu fast 80 Prozent für die Reform. In der Bündner Region Bernina waren es gerade mal halb so viel.
Interessant dabei: Nirgends in der Schweiz dominieren die Rentner und Rentnerinnen so wie in der Region Bernina im Kanton Graubünden. Und in keinem Zählkreis gibt es mehr unter 40-Jährige als in Zürich.
Der Generationenwandel ist denn auch die beste Erklärung für die Veränderungen über die Zeit: Junge Menschen sind vom Eherecht häufiger betroffen als ältere. Sie wollen heute freie Lebensgestaltung, und jede nachrückende Generation versteht das vorherrschende Gesetz weniger als die vorherigen. So zeigten die SRG-Befragungen schon vor der Abstimmung: Je jünger die Befragten, desto eher befürworteten sie die Ehe für alle.

Bremsende Prozesse
Doch die Mühlen in der Schweiz mahlen langsam. Die Politikwissenschaft erklärt das mit der Häufigkeit von Veto-Instanzen.
In der Schweiz bremst schon das Referendum politische Veränderungen – alleine dadurch, dass es existiert. Denn es hat eine vorauseilende Wirkung: Wer keine Volksabstimmung verlieren möchte, ist eher bereit zum Kompromiss. Das braucht aber Zeit. Die Existenz des Referendums stärkt darum die politisch beharrenden, konservativen Kräfte und schwächt veränderungswillige.
Das war auch bei der “Ehe für alle” so. Der erste Anlauf begann 1998 auf Antrag der grünen Nationalrätin Ruth Genner. Doch versandete dieser im Parlament, das stattdessen 2005 das Gesetz für die eingetragene Partnerschaft einführte. 58 Prozent stimmten damals dafür.
Der zweite Startschuss erfolgte 2013. Erst dieser Vorstoss aus der progressiven Mitte – geführt von der Grünliberalen Kathrin Bertschy– führte im Parlament zum breiten Durchbruch bei den linken Parteien und im Zentrum. In der minderheitlichen Opposition blieben die Traditionalisten der SVP, EVP und EDU.
Auch der Föderalismus ist eine theoretische Veto-Instanz. Primär kantonale oder städtische Anliegen können progressiver ausfallen, weil sie nicht auf bundesweite Einheit angewiesen sind. Nationale Entscheidungen müssen aber Interessen, Werte und Befindlichkeiten der Regionen integrieren. Deshalb ist die Schweizer Drogenpolitik gesellschaftsliberal, die Familienpolitik aber überwiegend gesellschaftskonservativ.

Diversität gewinnt
Ausbleibenden Wandel allein mit Veto-Playern zu erklären, greift aber zu kurz. Es liegt auch an den Politiker:innen und deren Biotop. Tatsächlich geht man heute davon aus, dass auch das die politische Langsamkeit befördert. Sei es, weil Politiker:innen lange in Regierung und Parlamenten verweilen, oder weil sie konstante ideologische Ausrichtungen pflegen oder weil sie immer aus denselben Quellen rekrutiert werden.
Einiges davon ist neuerdings in Bewegung geraten: Die Verweildauer in Behörden sinkt, der Pluralismus wächst und der Hintergrund des politischen Personals ist vielfältiger geworden.
Am sichtbarsten wurde dies mit den Frauen im Parlament. Seit 2019 machen sie 42 Prozent des Nationalrats aus. Sie stimmten verstärkt für die Neuerung.
Die Lehre aus der Volksabstimmung lautet: Fordernde Minderheiten wie die LGTBQ-Bewegung dürfen nicht in Verborgenen bleiben; sie und ihr Selbstverständnis müssen sichtbar sein.
So traten LGTBQ-Aktivist:innen in den letzten Wochen hoch engagiert und gut vernetzt in allen Landesteilen in Erscheinung. Sie mobilisierten aus allen politischen Lagern heraus.
Die Zivilgesellschaft sei der wichtigste Akteur in der medialen Öffentlichkeit gewesen, resümierte eine Studie der Uni Zürich den Abstimmungskampf zur “Ehe für alle”.
Buchautor Philipp M. Ayoub, Professor für Politikwissenschaft an der Uni in Philadelphia, fasst das in einer griffigen Formel: Dem Coming-out der Staaten muss das individuelle vorausgehen. Wenn dieses stark genug ist, kann man ernten. Auch in der etwas langsameren Schweiz.

Claude Longchamp