Der Tag der Extreme

14.6.2021, exklusiv für Swissinfo deutsch, französisch, russisch

Was war da los beim gestrigen Abstimmungs-Sonntag in der Schweiz? Auffällig war die hohe Mobilisierung und der tief aufgerissene Stadt-Land-Graben. Für Politik-Analyst Claude Longchamp steht zudem fest: Nach Covid ist die Schweiz nach rechts gerückt.

Die ausserordentliche Beteiligung
59.7 Prozent! Das war die Stimmbeteiligung am 13. Juni. Wer versteht, wie die direkte Demokratie in der Schweiz funktioniert, weiss, dass das sehr viel ist.
Es war die fünfthöchste Beteiligung aller Zeiten. Mehr nahmen 1992 teil, als man über den Beitritt zum EWR entschied; 1974, als es um die Überfremdungsinitiative ging und 1989, als über die Abschaffung der Armee und Tempolimiten auf Schweizer Strassen abzustimmen war. Höher war die Beteiligung auch 2016; damals entschied die Schweiz über die Durchsetzungsinitiative der SVP.
Die hohe Beteiligung überraschte ExpertInnen aber kaum. Man wusste: Corona hat die Schweiz mächtig politisiert. Vor weniger als einem Jahr hielt das auch das Sorgenbarometer der Credit Suisse fest. Kommt hinzu, dass fünf eidgenössische Vorlagen am gleichen Abstimmungstag mehr mobilisieren als etwa nur eine. Denn jede Vorlage zieht ihre spezifische Klientel an die Urnen.
Überraschend war aber das Profil der Beteiligten. Vor knapp neun Monaten beteiligten sich am damaligen Super-Sonntag ebenfalls 59.5%. Nachanalysen zeigten damals, dass vor allem die urbane Bevölkerung zu den Urnen strömte. Frauen, Junge und höher Bildungsschichten kamen hinzu. Das bevorteilte Mitte/Links.
Noch gibt es keine vergleichbare Untersuchung für den 13. Juni. Aber die Kantonsergebnisse lassen vermuten, dass es diesmal genau umgekehrt war. Jetzt war die ländliche Schweiz stark mobilisiert und mit ihr das bürgerliche und rechte Lager.
Für diese These spricht eine Spezialauswertung der Beteiligung nach Gemeinden des Forschungsinstituts gfs.bern. Es untersuchte, wie sich die gestrige Zusatzmobilisierung ausgewirkt hat. Resultat: Wo die Stimmbeteiligung besonders hoch war, stimmte man überdurchschnittlich gegen das CO2-Gesetz und gegen die beiden Agrarinitiativen.


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Der ausserordentlich Stadt/Land-Graben
Am späten Sonntagabend veröffentlichte das Bundesamt für Statistik den Stadt/Land-Index. Je höher der Index, desto tiefer der Graben zwischen ländlicher und urbaner Schweiz. Und jetzt wird’s verblüffend.
Bei allen drei umweltpolitischen Vorlagen war er ähnlich – und extrem. Am tiefsten klaffte die Lücke entlang der Siedlungsart beim CO2-Gesetz, gefolgt von der Trinkwasser-Initiative und der Pestizid-Initiative.
Dabei fällt auf, dass die Landgemeinden alle drei Vorlagen klar ablehnten, während die Kernstädte mehrheitlich drei Mal Ja sagten. Entscheidend waren die Agglomerationen und sonstigen Zwischenräume mit Kleinstädten. Diesmal neigten sie sich näher zum Land hin, weg von den Städten. Oder anders gesagt: An diesem Abstimmungswochenende wurden die Kernstädte politisch praktisch isoliert.
Ein Vergleich mit allen Abstimmungen seit 2018, die nach diesem Raster ausgewertet wurden, zeigt, wie bedeutsam dieser Graben war: Mehr als die 29 Prozentpunkte beim CO2-Gesetz wurden noch nie erreicht! Bisherige Rekordwerte im Stadt/Land-Spektrum gab es etwa, als es um Wohnungsfragen ging.


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Gründe für den Stadt/Land-Graben
Ich fragte Markus Freitag, Professor für politische Soziologie an der Universität Bern, nach den Gründen. Er sagt, Stadt/Land-Gegensätze sind in der Schweiz normalerweise weniger ausgeprägt als in anderen Ländern, speziell den USA. Doch schlagen sie immer wieder durch, “wenn die Lebensweise der verschiedenen Landesteile auf dem Spiel steht.”
Auf dem Land sind die Hauseigentümer stärker vertreten, und auch Besitzer von Privatwagen gibt es vermehrt. Und da schenkten alle drei Umweltvorlagen ein.
Eine heute publizierte Umfrage zeigt, wie etwa das CO2-Gesetz wahrgenommen wurde. Für die Nein-Stimmenden war es ein Angriff auf den Mittelstand, ohne positive Wirkungen für das Klimaproblem, aber zum Vorteil der linksgrünen Politik.
Das wuchtige Nein vom Land beim CO2-Gesetz folgte also nicht unbedingt den politischen Überzeugungen. Denn die bürgerlichen Zentrumsparteien Die Mitte und FDP befürworteten dieses Projekt. Doch hatten sie gerade auf dem Land Mühe, ihre Wählerschaft zu überzeugen.
Die Kampagnen haben die Nein-Welle vom Land verstärkt und in die Agglomerationen getragen. Intensiv waren sie zu allen drei Umweltvorlagen. Weniger Wirkung entwickelten die Ja-Kampagne zum CO2-Gesetz, die sich auf die urbane Schweiz konzentrierten. Deutlichere Folgen hatte die Nein-Kampagne gegen die Agrarinitiativen, die auf dem Land begann.
Die Trendumfragen im Voraus zeigten, wie die Zustimmungsbereitschaft von Woche zu Woche sank. Bei den Agrarinitiativen hatte man das erwartet. Beim CO2-Gesetz entspricht dies jedoch nicht dem Normalszenario.
Schliesslich waren 61 Prozent der Stimmenden gegen die Agrarinitiativen und 52 Prozent gegen das CO2-Gesetz.

Die erste Bilanz
Man kann diesen Abstimmungssonntag durchaus als möglichen Kipppunkt in der laufenden Legislaturperiode sehen. Mindestens teilweise korrigiert wurde gestern das Wahlergebnis von 2019. Mitte/Links wird weiterhin bestimmt durch die Klimawahl, Mitte/Rechts hingegen sorgt sich vielmehr um die Zukunft der Wirtschaft und Staatsfinanzen in der Nach-Corona-Phase.
Tagessiegerin war die SVP. Trendsetterin in der laufenden Legislaturperiode ist nicht mehr die Grünliberale Partei, neu ist es Die Mitte. Damit ist die Schweiz gestern wie auch insgesamt seit den letzten Wahlen nach rechts gerückt.

Kasten: Stadt/Land-Gräben als globales Phänomen
Stadt/Land-Gegensätze werden in der Regel als Globalisierungskonflikte beschrieben. Es stehen sich internationalistische und nationalistische Gesellschaftsteile gegenüber. 2016 wurde besonders heftig darüber berichtet.
Begonnen hatte es in Grossbritannien: Beim Brexit stimmten die ländlichen Gegenden, die älteren Generationen und die unteren sozialen Schichten für den Bruch mit der EU. Die Städte, die Jungen und die oberen sozialen Schichten wollten bleiben.
Auch bei der Wahl von Donald Trump war das ein Thema. Die konservativen Republikaner mobilisierten die peripheren Gegenden, die liberalen Demokraten die urbanen Zentren. Die Wahl 2016 konnte Trump für sich entscheiden, weil die Demokraten in ehemaligen Stammlanden, die einen wirtschaftlichen Abstieg erlitten hatten, schwächelten. 2020 wurde dies teilweise rückgängig gemacht.