Was, wenn aus dem viel beschworenen Konsumenten eine selbstbewusste Konsumentin geworden ist. Analyse der Agrarinitiativen, über die am 13. Juni abgestimmt wird.

Erschienen in: Die Grüne. Agrarzeitschrift.

Am 13. Juni 2021 stimmen die Schweizer über zwei Volksbegehren zur Landwirtschaft ab: Die Trinkwasser-Initiative und die Pestizid-Initiative. Dabei könnten die Frauen die entscheidende Stimme abgeben, analysiert der Politikwissenschaftler Claude Longchamp.

Der Meinungsumschwung bei Volksinitiativen
Im Herbst 2018 stimmte die Schweiz über zwei Initiativen zu Ernährungsfragen ab. Beide scheiterten: die Fair-Food-Initiative mit 61 Prozent Nein, die Volksinitiative für Ernährungssouveränität mit 68 Prozent Ablehnung.
50 Tage zuvor zeigten Umfragen das Gegenteil: 78 Prozent für Fair-Food, 75 Prozent für Ernährungssouveränität. Das entspricht einem Meinungswandel von 43 respektive 39 Prozent-Punkten in zwei Monaten. Solche Veränderungen sind unüblich – aber typisch!
Denn bei den allermeisten Volksinitiativen kommt es im Abstimmungskampf zu einem Meinungsumschwung. Grund: Zu Beginn anerkennen viele Stimmbürger das angesprochene Problem und sind zur Initiative mehr oder weniger positiv eingestellt.
Am Ende geht es um die vorgeschlagenen Massnahmen zur Lösung des Ausgangsproblems. Da kann es sein, dass man die konkreten politischen Lösungen nicht unterstützen will!
Wie stark der Umschwung ist, hängt zunächst vom Thema ab. Je mehr es den Alltag betrifft, umso eher sind Meinungen auch ohne Kampagnen gemacht.
Im Abstimmungskampf liegt sodann die Beweislast bei der Pro-Seite. Gegen etwas zu sein ist einfacher. Häufig reicht es, «Ja, aber» zu sagen. Die Fachleute nennen das die sogenannte «Schwachstellen-Kommunikation». Man konzentriert sich auf den umstrittensten Punkt, meint aber das Ganze.
Das Umfeld der Abstimmung ist ein dritter, entscheidender Faktor. Da geht es um die Bedeutung einer Abstimmung im momentanen politischen Umfeld. Und es zählt, wer sich wie positioniert.

Wieso die Agrar-Initiativen 2018 scheiterten
Bei den Agrar-Initiativen 2018 (Fair-Food und Ernährungssouveränität) war auch der Abstimmungskampf der Gegenseite intensiv. An die KonsumentInnen gerichtet wurden die Folgen für Lebensmittelpreise herausgestrichen.
Für die politische Polarisierung sorgte die zentrale Botschaft, beide Initiativen kommen von linksgrüner Seite. Das folgte einer bekannten kommunikativen Strategie: Die beiden Initiativen sind Zwillinge, weil sie frontal gegen die Landwirtschaft gerichtet sind. Differenzierungen sind da nicht nötig.
Der ausserordentliche Umschwung bei den Agrar-Initiativen 2018 war meines Erachtens folglich kampagnengemacht.

Wiederholt sich die Geschichte der Agrar-Initiativen 2021?
Spätestens hier sollte das Licht aufgehen, warum ich diese Einleitung geschrieben habe: Am 13. Juni stimmen wir erneut über zwei Volksbegehren zu Landwirtschafts-Fragen ab.
Würden sie angenommen, hätten sie Konsequenzen für ProduzentInnen und KonsumentInnen. Und auch dieses Mal kommen beide Volksbegehren aus dem ökologischen, respektive linken Lager.
Wiederholt sich die Geschichte? Der Slogan der Gegnerschaft «2 × Nein zu den extremen Agrar-Initiativen» suggeriert dies. Ich bin aber unsicher! Denn für mich gibt es mindestens zwei entscheidende Unterschiede.

Die Schweizer Politik ist grüner, weiblicher und jünger geworden
Erstens haben sich die Rahmenbedingungen verändert. Nach der damaligen Abstimmung erhitzte 2019 die Klimafrage die Gemüter. Mitten im Wahljahr 2019 war der Frauenstreik. Das Ergebnis ist bekannt: Nationalrat und Ständerat wurden grüner, weiblicher und jünger.
2020 veränderte sich die Grosswetterlage nochmals. Und seit gut einem Jahr dominiert die Covid-19-Pandemie unser Leben und bestimmt das politische Klima. Der politische Kampf ist zwischenzeitlich polarisierter denn je. Gelitten hat das Vertrauen, dass die Behörden in der Lage seien, die Herausforderung effektiv zu meistern.
Bei den jüngsten Volksabstimmungen sieht man Wirkung dieser Faktoren: Die Referenden gegen das Jagdgesetz, gegen die Erhöhung der Kinderzulagen und gegen die elektronischen Identifikationsdienste (E-ID-Gesetz) waren erfolgreich. Eine solche Häufung von Niederlagen für die Behördenseite in sechs Monaten ist in der Abstimmungsgeschichte eine Rarität.
Und mit dem Ja zum Verhüllungsverbot wurde nach sieben Jahren Unterbruch erstmals wieder eine Volksinitiative angenommen.
Man kann es auch so sagen: Die Vorherrschaft der bürgerlichen Politik bröckelt. FDP und «Die Mitte» verlieren bei kantonalen Wahlen am meisten. «Die Mitte» ist nach der Fusion von CVP und BDP auf Identitätssuche. Und die FDP wird durch Richtungskämpfe geschwächt. Gewinnerparteien im Zentrum sind die Grünliberalen und die EVP.
Das zeigt sich auch bei der aktuellen Trinkwasser-Initiative und der Pestizid-Initiative. Nicht nur die SP und die Grünen sind wie 2018 dafür. Die EVP hat sich ihnen angeschlossen. Auch die GLP befürwortet die Trinkwasser-Initiative.
Auf der Nein-Seite sind «Die Mitte», die FDP und die SVP.

Junge, selbstbewusste Frauen sind die neue Polit-Avantgarde
Zweitens verändert sich auch die Fähigkeit zur Mobilisierung. Trotz eingeschränkten Möglichkeiten für Politkampagnen während der Covid-19-Pandemie erreicht die mittlere Abstimmungsteilnahme hohe Werte: 50 Prozent Stimmbeteiligung ist «das neue Normal». Bis 2019 galten 40 Prozent schon als «ganz gut».
Die letzte VOX-Analyse zur Konzernverantwortungsinitiative und der Kriegsgeschäfte-Initiative zeigte warum: Am 29. November 2020 nahmen mehr Frauen an den Volksabstimmungen teil als Männer – auch eine Rarität in der Abstimmungsgeschichte.
Das neue Phänomen geht weitgehend auf eine starke Mobilisierung von Frauen unter 35 Jahren zurück. Junge, selbstbewusste Frauen sind die neue Polit-Avantgarde.
In den letzten sechs Monaten votierte die Mehrheit der Frauen mehrfach anders als jene der Männer. So waren sie entscheidend, dass das Jagdgesetz trotz sicherer Unterstützung im Parlament an der Urne scheiterte.
Die neue Kraft ist womöglich noch stärker als gemeinhin wahrgenommen. Denn die Konzernverantwortungs-Initiative hatte das Volksmehr, dank einer Mehrheit der Frauen. Die Männer setzten sich mit ihrem mehrheitlichen Nein nur dank dem Ständemehr durch. Der Abstimmungsausgang war auf Messers Schneide!

Das Roulette-Spiel der Gegner der Agrar-Initiativen
Ungeachtet solcher Veränderungen verfährt die Gegnerschaft der Trinkwasser-Initiative respektive der Pestizid-Initiative wie gehabt.
Die vom Bundesrat befürwortete Agrarpolitik AP22+ wurde im Parlament beerdigt. Die bürgerlichen Parteien empfehlen einen weitgehend unbekannten indirekten Gegenvorschlag. Und im Abstimmungskampf greift man zum Zweihänder: Alles oder nichts!
Man hofft, die Initiantinnen würden sich wechselseitig streiten. Die Grünen sind mehr für die Pestizid-Initiative, die Grünliberalen für die Trinkwasser-Initiative. Beide Parteien äussern Bedenken, wenn sie sich zum jeweils anderen Projekt äussern müssen.
Das hat die Pestizid-Initiative in die linke Ecke verwiesen. Und die Trinkwasser-Initiative hat Schaden erlitten, weil ausgerechnet die Dachorganisation Bio Suisse die TWI ablehnt.
Doch könnte die Schadenfreude zu früh sein! Meiner Meinung nach unterschätzt das doppelte Nein das veränderte Umfeld. Denn am Ende wird es um das gespaltene Zentrum zwischen «Die Mitte» und GLP respektive EVP gehe. Es wird sich alles um jüngere Frauen drehen, die meist aus dem urbanen Umfeld kommen.
Für sie ist die Welt nicht mehr die gleiche wie 2018. Aus dem von der Gegnerschaft besungenen Konsumenten ist nämlich eine selbstbewusste Konsumentin geworden! Sie verlangt konkrete Taten bei der Durchsetzung neuer Lebensweisen, nicht zuletzt in Ernährungsfragen. Da will sie kein Gift mehr essen und trinken müssen, und sie verlangt umweltschonende Produktionsweisen.
Es bleibt: Sollten sich am Ende der Meinungsbildung die Stimmabsichten zu beiden Vorlagen unterscheiden, dürfte die Trinkwasser-Initiative dank ihrer liberal ausgerichteten Unterstützung aus der politischen Mitte mehr Chancen haben als die Pestizid-Initiative.