Wie die Frauen Abstimmung und Wahlen erobert haben

Gekürzte Fassung der ZOOM-Rede von Claude Longchamp vor der Gleichstellungskommission des Kantons Bern 50 Jahre nach Einführung des Frauenstimmrechts in der Schweiz


Quelle: Swissinfo

Worum es heute geht
1971 erhielten die Schweizer Frauen das Stimm- und Wahlrecht. Europäisch gesehen war die Schweiz Nachzüglerin. Dass Liechtenstein noch etwas länger brauchte, bleibt ein schwacher Trost.
In den meisten Ländern brachten Staatsgründungen oder Kriegserschütterungen das Wahlrecht für erwachsene Staatsangehörige unabhängig vom Geschlecht. In der Schweiz galt das nicht. Die Armee blieb lange ungebrochen das Bürgerleitbild. Und stark männlich geprägt.
Dennoch: Seit 1971 hat sich mehr verändert, als gemeinhin angenommen. Der Bundesrat bestand 2010/11 mehrheitlich aus Frauen. Die Volksvertretung im Nationalrat ist heute zu 42 Prozent weiblich, Trend steigend. Die Frauen stellten bei Grünen, SP und CVP die Mehrheit der Wählenden. 10 Mal hat die Mehrheit der Frauen nationale Abstimmungen entschieden.
Bezogen auf den Frauenanteil im Parlament liegen wir weltweit gesehen heute an 20. Stelle. Gemäss der jüngsten WEF-Statistik figuriert die Schweiz bei der Gleichstellung von Mann und Frauen auf dem 10. Platz.
Zeit zum Ausruhen?
Nein! Mein Ziel ist es, eine Bilanz zu ziehen, was, wann und warum sich bei Wahlen und Abstimmungen im letzten halben Jahrhundert durch die Frauen verändert hat.

Der Linksrutsch der Frauen
Eine Auswertung aller Wahlbefragungen in der Schweiz kommt zum Schluss: Bis in die 1980er Jahre sahen sich die Frauen mehrheitlich als konservative Kraft in einem konservativen Land. Doch dann brach dieser Trend auf: Seit den Wahlen 1987 definiert sich der Durchschnitt der Frauen links vom Mittel der Männer. Nicht viel, aber recht konstant.
Die Wahl 2007 war die letzte mit einer klar bürgerlichen Tendenz. Die SVP erreichte ihren bisherigen Zenit, die CVP hielt sich, nur die FDP verlor. 63 Prozent der Männer wählten eine dieser Parteien. Bei den Frauen waren es damals nur fünf Prozentpunkte weniger.
Nur 12 Jahre später hat der Anteil bürgerlich wählender Männern um 7 Prozentpunkte abgenommen, bei den Frauen gar um 12. Die geschlechtsspezifische Schere öffnet sich. Dafür ist im gleichen Zeitraum der Anteil der Frauen, der SP, Grüne oder GLP wählt, auf 42 Prozent stark gestiegen. Setzt sich der Trend fort, ist es möglich, dass 2023 mehr Frauen für eine Mitte/Links-Partei stimmen als für eine bürgerliche.

Säkulare Gesellschaft und Bildungsrevolution
Sozialwissenschaftlerinnen wie die Britin Rosalind Sharrocks, die sich mit solchen Phänomenen länderübergreifen auseinandergesetzt hat, sehen darin einen Trend verschiedener westlicher Gesellschaften – allen voran Island.
Sharrocks sieht die anhaltenden Säkularisierung westlicher Gesellschaften als Hauptgrund. Religiöse Bindungen weichen sich auf. Das schafft Freiräume. Frauen wissen das mehr als Männer zu nutzen. Bei ihnen schwindet der gesellschaftliche Konservatismus, wohl ausser auf dem Land. Im urbanen Umfeld nehmen sozialliberale Einstellungen mit jeder Generation zu. Das hat seinen Hintergrund in der Bildungsrevolution, die in den 1960 Jahren einsetzte. Kurzfristig wollte man mehr ausgebildete Berufsleute wie Ingenieur*innen. Langfristig hat sie den Frauen mehr Verbesserungen gebracht, vor allem bei der höheren Bildung.
An den Gymnasien stellen die Frauen seit längerem die Mehrheit der Absolvent*innen. Und in vielen Studienrichtung findet sich das Gleiche. Das änderte die Gesellschaft. Patriarchat ist out. Neuen Lebensmodelle sind gefragt. In der Politik hat dies vor allem dem partnerschaftlichen Gedanken zum Durchbruch verholfen.

Frauenmehrheiten bei Volksabstimmungen
Bei eidgenössischen Volksabstimmungen stellte man in den 1980er Jahren in der Schweiz erstmals fest, dass die Mehrheit der Frauen anders als die Mehrheit der Männer stimmte – und die Mehrheit der Stimmenden gleich war wie die der Frauen: ein historischer Moment in der traditionellen Männerdemokratie!
Entschieden wurde 1985 über das neue Ehe- und Erbrecht. Es ging um ein neues Familienmodell. Gleichberechtigung war angesagt. Die damalige Abstimmung hatte auch Symbolkraft. Denn es war Elisabeth Kopp, die erste Frau im Bundesrat, welche die Vorlage vorangetrieben und durch das Parlament und die Volksabstimmung gebracht hatte.
Aus zeitgeschichtlicher Sicht fällt auf, dass es eine Zeit des eigentlichen Umbruchs war. In wenigen Monaten des Jahres 1983 wurden wir uns des Waldsterbens in der Schweiz bewusst. Es formierten sich die Grünen als nationale Partei. Und im Dezember misslang die Wahl von Lilian Uchtenhagen als erster Frau in die Landesregierung. Das war nach den gesellschaftlichen Freiräumen auch eine politische Zäsur.

Rassismus-Strafnorm bringt Schweizer Rekord
Das Muster des Bruchs entlang von Geschlechterlinien sollte sich in den 1990er Jahren wiederholen. Am Anfang stand das knappe Nein zum EWR-Beitritt. Es folge mindestens eine Dekade der Entfesselung neuer Kräfte im Landesinnern. Man kann es auch das Jahrzehnt der Selbstentfaltung nennen.
Wiederum politisierte das Thema die Frauen mehr. 1993 stand eine erneut eine historische Bundesratswahl im Zentrum. Diesmal war es die gleichzeitige Nicht-Wahl von Christiane Brunner resp. die Wahl von Ruth Dreifuss.
In den folgenden vier Jahren kam es bei Volksabstimmungen gleich fünf Mal zu gegensätzlichen Mehrheiten von Frauen und Männern. Stets war das Volksmehr mit der Mehrheit der Frauen identisch. Nun war es kein Einzelfall mehr wie beim Ehe- und Erbrecht, sondern ein Muster. Das war ein Teil des anhaltenden Brunner-Effektes.
Der bis heute grösste Unterschied im Stimmverhalten der Geschlechter stammt aus dieser Zeit. 1995 betrug der Unterschied im Ja-Anteil zur Rassismus-Strafnorm glatte 17 Prozentpunkte – Schweizer Rekord! Die Männer wollten sich am Stammtisch den Mund nicht verbieten lassen. Die Frauen hatte genug.
In zwei der fünf Fälle entsprach der Abstimmungsentscheidung dennoch der Mehrheit der Männer. Denn das Ständermehr war in diesen Fällen nicht erreicht worden. Es übertrumpfte das Volksmehr, das nun weiblich bestimmt war.
Heute ist die Bilanz beider Geschlechter bei der Mehrheitsbeschaffung fast ausgeglichen. 19 Beispiele mit divergierenden Mehrheiten sind statistisch belegt. 10 Mal galt der Mehrheitsentscheid der Frauen, 9 Mal der der Männer. Dreimal wegen dem Ständemehr.

Die Ist-Zeit
Nun fällt auf, dass es seit Herbst 2020 eine neue Häufung geschlechtsspezifischer Abstimmungsmehrheiten gibt. Die Frauen, nicht die Männer, kippten das Jagdgesetz. Dafür kaufte die Mehrheit der Männer ohne Mehrheit der Frauen einen neuen Kampfjet. Und es war auch die Mehrheit der Männer, die das Ja zum Verhüllungsverbot für muslimische Frauen durchsetzte.
Mindestens in Ansätzen fällt auch hier auf, dass es Brüche gab: Die Klimawahl und der Frauenstreik bracht die grössten Veränderungen bei Nationalratswahlen der letzten 100 Jahre. Kurz danach misslang mit der Nicht-Wahl von Regula Rytz der Einzug einer weiteren Frau in den Bundesrat. Er hätte ihren Geschlechtsgenossinnen die Mehrheit in der Exekutive (und den Grünen den Einzug in die Landesregierung) gebracht.

Die kommende Frauengeneration bricht auf
Analysiert man die Abstimmungsumfragen seither, sticht die Einführung des Vaterschaftsurlaubs ins Auge. Krass «Ja» stimmten die unter 40jährigen; die jüngeren Frauen noch deutlicher als die jüngeren Männer. Sie haben sich mit ihrem Lebensmodell ganz von patriarchalen Familienmodellen verabschiedet.
Dass eine 60prozentige Mehrheit resultierte, hat aber einen weiteren Grund. Auch die Frauen zwischen 60 und 75 waren, anders als die gleichaltrigen Männer, stark für den Vaterschaftsurlaub. 1971 waren sie jung, haben die Einführung des Frauenstimmrechts mehrheitlich miterlebt. Heute tragen viele von ihnen die Kindeskinderbetreuung mit, und befürworten neue Formen der Arbeitsteilung.
Man kann das als Hinweis für einen gesellschaftlich progressiven Aufbruch nehmen. Er geht klar von jungen Frauen aus. Mindestens themenzogen kommt es dabei zu einer generationenübergreifenden Solidarität unter Frauen. Und sie setzen gemeinsam Sachen durch, die in der gesellschaftskonservativen Schweiz lange unvorstellbar gewesen wären.

Die Frauen bald als «the new normal»
Die Nationalratswahlen 2019, die im Kanton Genf besonders gut dokumentiert sind, sahen bei den unter 35jährigen mehr Frauen als Männer an der Urne. In der Stadt Bern waren im letzten November gar in allen Altersklassen unter 60 die Frauen mehr wählen als die Männer. Das Ergebnis lässt sich sehen: 67 Prozent der StadtparlamentarInnen sind Frauen – erneut ein Schweizer Rekord in der Vertretung von Frauen im Parlament! Aber kein Einzelfall, denn auch in Lausanne und Freiburg stellen sie seit einen Monat die Mehrheit der LokalpolitikerInnen.
Eindrücklich war auch das Beispiel der eidgenössischen Volksabstimmung vom vergangenen November, als sich die Schweiz zur Konzernverantwortungsinitiative äusserte. Damals nahmen knapp mehr Frauen teil als Männer. Und es waren die jüngeren Frauen, die dafür verantwortlich waren.
Ich weiss: Ich rede hier von der Avantgarde, in der jungen Generation, den Städten und höheren Bildungsschichten. Aber ihr politisches Verhalten kann Schule machen! Eine Studie der Uni-Lausanne, die dieser Tage vorgestellt wurde, zeigt wie es geht: Heute geht die Politik voran. Sie hat Auswirkungen auf Verwaltungen und Gesundheitswesen, die von der Feminisierung erfasst sind. Wohl erst später wird dies die Privatwirtschaft erfassen.

Ein kleiner Ausblick
Das Frauenstimm- und Wahlrecht wurde in der Schweiz nur im Schneckentempo eingeführt. Die üblichen Neuanfänge gab es hier nicht. Es brauchte 1968. Und es braucht einen Bundesrat, der die Frauen von der Europäischen Menschenrechtskonvention ausnehmen wollte.
Auch nach 1971 war es ein Jahrzehnt in Gleichstellungsfragen weitgehend ruhig. Seither ändert sich einiges, meist nach Brüchen und in Wellen. Schneller zeigte sich das in Volksabstimmungen; dann auch in Wahlen. Frauen holen bei der politischen Beteiligung auf und auch bei der Repräsentation in der Politik ist ihr Aufstieg unübersehbar.
Ich sehe die erwähnte Säkularisierung und die Bildungsrevolution als wichtigste Voraussetzungen. Ich denke, die Brüche der letzten 35 Jahre in der Schweiz Politik eröffneten mehrfach Tore für starken Veränderungen in Gesellschaft und Politik. Und es waren immer wieder markante Ereignisse, die zu einer Politisierung des Landes und ihrer Frauen führten. Mit Folgen für gleiche Rechte und Gleichstellung, die noch nicht umfassend absehbar sind!