Selbstbewusste «Freunde der Verfassung”: Was zeichnet die neue Bewegung gegen das Covid19-Regime aus?

Essay geschrieben als Hintergrund für den Talk mit Nau_Live

Sie heissen «Freunden der Verfassung». Sie sind ein neuer politischer Akteur, der gezeigt hat, dass er die Volksrechte nutzen kann. Doch wer sind die neuen Verfassungspatrioten?


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Überraschungscoup
Viele BeobachterInnen staunten, als eine weitgehend unbekannte Gruppierung im Herbst 2020 ankündigte, gegen das COVID-19-Gesetz das Referendum ergreifen zu wollen. Kurz zuvor hatte das Schweizer Parlament beschlossen, die Verordnungen zur Bewältigung der Coronakrise in ordentliches Recht überzuführen.
Die knapp 90’000 Unterschriften, welche die «Freunde der Verfassung» (FdV) im Januar 2021 fristgerecht eingereicht haben, führen zu einer Volksabstimmung über das COVID-19-Gesetz, welche voraussichtlich am 13. Juni 2021 stattfinden wird.
Sollte das Gesetz abgelehnt werden, wären die FdV fast aus dem Nichts heraus ein referendumsfähiger Akteur geworden. Jedoch wird ihnen auch ohne Ablehnung des Gesetzes die Aufmerksamkeit als Referendumsführer in den kommenden Monaten sicher sein.

2’000 Mitglieder in einem losen Netz
Wer sind die Freunde der Verfassung? Journalistische Reportagen zeichnen folgendes Bild:
Sie sind für unser Land ein Novum und sehen sich als neuartiges politisches Projekt. Ohne die Brüche durch die Coronakrise, aber auch ohne die COVID-19-Politik von Bund und Kantonen, wären sie kaum entstanden. Offensichtlich besteht ein gesellschaftlicher Wille dazu, einen politischen Kampf zu führen. Er motiviert Menschen aktiv oder passiv zum Projekt zu stehen.
2’000 Mitglieder zählen die «Freunde der Verfassung» nach eigenen Angaben. Einige waren schon früher politisch aktiv, die meisten von ihnen aber nicht in festen Strukturen. Die neue Organisation soll über hunderte Freiwillige verfügen, die bereit sind, Unterschriften zu sammeln. Koordiniert werden sie durch ein einfaches Sekretariat.
Eines haben die Freunde der Verfassung begriffen: Das persönliche Gespräch ist die Seele der direkten Demokratie. Entsprechend gehen sie lieber auf die Strasse, um für ihr Anliegen zu werben, als digitales Marketing dafür einzusetzen.
Ganz ohne Online-Kommunikation kommt man bei den FdV wohl doch nicht aus. Insider berichten, dass man einen effizienten Informationsdienst etabliert hat und gezielt Mail-Aktionen einsetzt, um zu mobilisieren.

Teil einer neuen Bewegung
Die «Freunde der Verfassung» sind ein wesentlicher Bestandteil einer erwachenden, neuen sozialen Bewegung. So nennt man kollektive Akteure, die den gesellschaftlichen oder politischen Wandel beschleunigen oder bremsen wollen, ohne dafür eine feste Partei zu bilden. Vielmehr sind soziale Bewegungen bereit, mit verschiedenartigen Mobilisierungsangeboten zu experimentieren.
Allen MitgliederInnen der Bewegung gemeinsam ist eine gehörige Skepsis gegenüber Corona-Massnahmen.
Auffällig ist die Abgrenzung der Verfassungsfreunde von fundamentalen Gegnern der COVID-19-Politik. Massnahmen gegen die Pandemie zu ergreifen, sei legitim, hört man aus dem Umfeld der FdV. Allerdings wird der Einschränkung von verfassungsmässigen Grundrechten den Kampf angesagt.
Letztlich geht es um die individuelle Freiheit, die absolut gesetzt wird. Dabei geht man radikal von sich aus, ohne Rücksicht auf die Folgen für andere.

Verwandtschaften
Verwandte Projekte finden sich beispielsweise bei den Jungfreisinnigen. Aus ihren Reihen stammt die jüngst im Internet gestartete Unterschriftensammlung für eine Petition, die einen sofortigen Abbruch des Lockdowns fordert. Statt der erwarteten 100’000 Unterschriften sind bis jetzt 50’000 zusammengekommen. Das ist weniger als beim Referendum gegen das COVID-19-Gesetz.
Härter sind Protestformen wie nicht bewilligte Demonstrationen gegen die Behördenpolitik, die bewusst das Distanz- und Maskengebot missachten. Der jüngste «Spaziergang» dieser Art war an diesem Wochenende in Zürich. Mobilisiert hat das einige hundert Teilnehmende.
Schliesslich gibt es auch Formen des offenen, zivilen Ungehorsams, etwa durch BesitzerInnen von Restaurants, die sich staatlichen Anordnungen widersetzten und trotz Bussen auf Betriebsschliessungen verzichten. Richtig in Schwung gekommen ist dieser Aufruf in der Schweiz jedoch nicht.
Schwere nächtliche Ausschreitungen gegen die Corona-Politik wie in den Niederlanden sind in der Schweiz unbekannt.
Diesen Projekten und Bewegungen gemeinsam ist, dass sie mit ihrem Protest als ausserparlamentarische Opposition Druck auf die etablierte Politik ausüben wollen, persönliche Freiheitsbeschränkungen aufzuheben.
Wenngleich die «Freunde der Verfassung» inhaltlich radikal denken, handeln sie doch (vordergründig) institutionell, im breiten Rahmen der bestehenden Volksrechte. Bewusst in Kauf genommen werden allerdings Verstösse gegen Konventionen, damit die OrdnungshüterInnen aufmarschieren müssen und gegen die Staatsmacht rebellieren werden kann. Darüber wird in den eigenen sozialen Medien gerne berichtet, um weitere Medienaufmerksamkeit zu erzeugen.

Eigenschaften des neuartigen Akteurs
Die VerfassungsfreundInnen zeichnet zuerst eine gehörige Portion Patriotismus aus. Ganz bewusst versammelten sie sich am 1. August 2020 auf dem «Rütli», um die kommenden Aktivitäten zu planen.
Die Aktiven betreiben zudem zielgerichtete Themenarbeit. Ihr eigenes Projekt steht im Zentrum. Denn nur das sichert ihnen eine unverwechselbare Identität.
Teile der VerfassungsfreundInnen verfolgen auch unternehmerische Ziele. So leistet der Solothurner Verleger Christoph Pfluger die Medienarbeit. Hauptsächlich ist er Verleger der Zeitschrift «Zeitpunkt», die sich sonst Themen wie dem Widerstand gegenüber 5G widmet.
Bekanntester Kopf ist Nicola Rimoldi, ein 25-jähriger Hyperaktivist, der bei den Jungfreisinnigen im Kanton Luzern ausgeschlossen wurde und jetzt im Marketing der konservativen «Schweizer Monatshefte» tätig ist. In den letzten Monaten war er an jeder Aktion gegen das COVID-19-Regime mit dabei.
Intern wichtiger sind Personen wie Sandro Meier und Michael Bubendorf.

Mosaikstein einer erwachenden libertären Strömung
Man kann die neue Gruppierung als Mosaikstein in der erwachenden libertären Strömung sehen. Sie positionieren sich rechts der FDP, aber nicht wie die nationalkonservative, antieuropäische SVP.
Eine eigentliche libertäre Partei gibt es in der Schweiz nicht. Ansätze finden sich bei der bestehenden, sehr kleinen «Unabhängigkeitspartei». Sie hat angekündigt, sich im April 2021 nach dem amerikanischen Vorbild in «Libertäre Partei» umbenennen zu wollen.
Verstehen sich die FdV als themenzentrierte Gruppierung, werden sie da nicht mitmachen. Weltanschauliche Überschneidungen dürfte es aber geben.
Vielleicht muss man zwischen AktivistInnen und Fussvolk unterscheiden. Erstere geben sich bewusst überparteilich. Zweites zeichnet sich vor allem durch Politverdrossenheit aus.
Entfremdung von Staat und Medien als Auslöser
Eine erste Übersicht über die neue Bewegung gegen die COVID-19-Politik in Deutschland, Österreich und der Schweiz der Universität Basel stellt fest: Die meisten KritikerInnen stammen aus der Mittelschicht. Übervertreten sind Selbständige. Das mittlere Alter ist nahe dem Bevölkerungsschnitt. Das unterscheidet sie soziologisch beispielsweise von der Klimastreik-Bewegung, deren Anhängerschaft deutlich jünger, weiblicher und akademischer ist.
Charakteristisch für die Anhängerschaft der Corona-Skeptiker sei eine starke Entfremdung vom politischen System und den etablierten Medien, steht im Forschungsbericht. Bürgerinitiativen werde viel Vertrauen geschenkt und auch Unternehmen misstraue man weniger als Medien, Behörden, der EU, Parteien und dem Parlament.
Politisch stammen bei weitem nicht alle Sympathisierenden aus dem rechten Parteienspektrum. Viele seien aber dabei, sich dahin zu bewegen. Bevorzugt werden die AfD in Deutschland resp. die FPÖ in Österreich. 43 Prozent der Bewegten, die in der Schweiz befragt wurden, würden heute SVP wählen.
Studienleiter Oliver Nachtwey dazu: «Es handelt sich im Ganzen um keine genuin rechte Bewegung, aber um eine, die nach rechts offen ist und grosse Radikalisierungspotenziale aufweist.»
Nebst der Corona-Politik des Staates kann man in der Schweiz auch das Vakuum nennen, das die schwächelnde SVP seit 2019 hinterlässt. Das schafft Platz für neue Projekte, die früher aus der SVP gekommen oder von der Partei einverleibt worden wären.

Mächtig selbstbewusst
Die neuen VerfassungspatriotInnen sind mächtig selbstbewusst. Kaum sah man sich mit der ersten Unterschriftensammlung in Zielnähe, half man dem Referendumskomitee gegen das neue Terrorgesetz aus. So kamen gleich nochmals gut 50’000 Unterschriften zusammen.
Es ist nicht auszudenken, was geschieht, wenn die Gruppierung eigene Volksinitiativen lanciert, um die Behördenpolitik nicht nur zu bremsen, sondern gleich vor sich hin zu treiben.