Was in der Schweiz Wahlen entscheidet

Kurzfassung des Datenblogs “Auf lange Sicht”, erschienen im RepublikMagazin vom 16. September 2019

Wer glaubt, dass Parteien einander Wähler abjagen, kennt nur einen Teil
der Wahrheit. Das Zauberwort für den Erfolg lautet: Mobilisierung. Das gilt umso mehr, als eine Partei einen Pol bildet.

Die Schweiz wählt am 20. Oktober ihr Parlament für die 51. Legislaturperiode. Bereits im Vorfeld versuchen Politikforscher mit verschiedenen Mitteln, das Resultat für den Nationalrat vorwegzunehmen. Die drei verwendete Schätzungstools sind:

– eine systematische Auswertung aller Kantonsratswahlen innerhalb der letzten vier Jahre (vom Forschungsinstitut gfs.bern, im April 2019);
– das SRG-Wahlbarometer, basierend auf Onlinebefragungen (vom Forschungsinstitut Sotomo, erhoben im August 2019);
– eine Wahlbörse mit mehreren hundert Teilnehmern, die mit fiktivem Geldeinsatz auf die Ergebnisse der Wahlen wetten (von 50 plus 1, publiziert im September 2019).

Die voraussichtlichen Stimmengewinner und -verlierer
Diese Instrumente legen für die sieben grössten Parteien der Schweiz ähnliche Veränderungen bei den Wähleranteilen nahe:

Abstrahiert man von den geringen Unterschieden auf die erwarteten neuen Parteistärken, zeichnet die Kombination der Tools ein klares Bild:

– Die Grünen (im Schnitt +2,7 Prozentpunkte) und die GLP (+1,8) erscheinen durchwegs als Gewinnerparteien.
– Die SVP (–2,4␣Prozentpunkte), die CVP (–1,2) und die BDP (–1,1) werden einheitlich als Verliererparteien gesehen.
– Die FDP und die SP werden nicht ganz eindeutig bewertet. Nimmt man auch hier den Mittelwert, könnte die FDP (+0,4 Prozentpunkte) leicht gewinnen und
die SP (+0,1) wäre fast unverändert.

Damit es klar ist: Dies sind keine Angaben zur Sitzveränderung. Dafür wären kantonale Analysen der Parteistärken mitsamt aller Listen- und Unterlistenverbindungen nötig. Nur sie erlauben eine Umrechnung von Stimmen in der Wählerschaf auf Mandate in der grossen Kammer.

Trotzdem lassen die Zahlen erste Schlüsse zu auf die Machtverschiebungen zwischen den Parteien und auf deren Ursachen. Dazu einige Basics zur Interpretation von Wahlergebnissen.

Die grundlegenden Effekte

Verliert die Partei X bei einer Wahl 2,5 Prozent punkte und gewinnt die Partei Y zugleich 2,5 Prozentpunkte, so geht man intuitiv davon aus, dass eine entsprechende Anzahl von Wählerinnen von X zu Y gewandert ist.
Aktuell könnte das zum Beispiel heissen: Die Grünen gewinnen Wähler von der SVP hinzu – möglicherweise bei den Bäuerinnen und Bauern, die mit der Haltung ihrer angestammten Partei in der Klimafrage unzufrieden sind.
Doch das ist häufig ein Fehlschluss. Direkte Parteiwechsel sind nur zwischen zwei Parteien mit vergleichbarem Programm wahrscheinlich – also zwischen SP und
Grünen oder zwischen CVP und FDP.
Bei weltanschaulich gegensätzlichen Parteien spielt in der Regel ein anderer Effekt: Die Partei, die verliert, erfährt eine Demobilisierung ihrer Wählerschaf, sprich, bisherige Wählerinnen werden zu Nichtwählerinnen, und die Gewinnerpartei rekrutiert ihr Plus vor allem bei Neuwählern – sei es, dass diese zuvor noch kein Wahlrecht hatten, sei es, dass sie nach einer Pause wieder wählen.
Folglich verliert die SVP wohl kaum Bauern an die Grünen, aber enttäuschte Protestwählende aus dem Jahr 2015 an die politisch Abstinenten. Und bei den Grünen melden sich neuerdings Wählende, die vermutlich darauf zählen, dass die Partei dank ihrer Stimme die ökologische Wende schafft.
Mobilisierung und Demobilisierung sind generell an den Polen der Parteienlandschaft wichtig – also bei SVP, SP und Grünen. Im Zentrum, etwa bei GLP und FDP, spielt dagegen der Stimmentausch eine grössere Rolle für das Endergebnis.

Der kurzfristige Ausblick

Das jüngste SRG-Wahlbarometer eröffnet als einziges Tool die Möglichkeit, dies nachzuprüfen. In der folgenden Grafik sind die Angaben hochgerechnet: Pfeile
zwischen den Parteien zeigen Wechseleffekte an, Pfeile von aussen zu einer Partei hin zeigen Mobilisierungs- und Demobilisierungseffekte an.

Die Übersicht bestätigt die bekannten Muster zu weiten Teilen:

Erstens spielt die Mobilisierung an den Polen eine grössere Rolle:

– Eindeutig positive Mobilisierungseffekte haben die Grünen und die SP, in geringerem Masse auch die GLP. Schwach positiv sind sie bei der FDP.
– Eine eindeutige Demobilisierung zeigt sich bei der SVP. Weniger stark, aber auch nachteilig findet sich diese bei der BDP und minim bei der CVP.

Zweitens wechseln Wählerinnen primär innerhalb eines Lagers die Partei. Drei Parteien dürfen Wechselwähler anziehen:

– Die Grünen: Sie legen namentlich zulasten der SP um 0,9 Prozentpunkte zu. Ein Teil des erwarteten Grünen-Wahlsiegs dürfe damit auf das Konto der SP gehen, die Anteile in entsprechendem Ausmass verliert.
– Die GLP: Sie gewinnt als einzige Partei von links und rechts, was in der Schweiz ausgesprochen selten ist. 0,6 Prozent‧punkte kommen von der SP, im zweitstärksten Wechseleffekt überhaupt. 0,3 Punkte machen ehemalige Wähler der BDP aus und je 0,2␣Punkte solche der CVP, FDP und SVP.
– Die FDP: Sie erntet vor allem Stimmen bei der CVP und der BDP. Die Wechslerbilanz von 0,5 Prozentpunkten zwischen FDP und CVP ist die drittstärkste überhaupt. Allerdings franst die FDP an ihren Rändern ebenfalls aus – nirgends stark, aber überall ein bisschen. Das ist typisch für eine Partei, die sich kurzfristig neu positioniert hat und damit auch Verunsicherung auslöst.

Diese Auflistung relevanter Wählerbewegungen muss nicht abschliessend sein. Plausibel vermutet werden kann darüber hinaus, dass es auch im rechten Lager
zwischen der SVP und der FDP Bewegungen gibt. Nur sind die Effekte in beide Richtungen ähnlich stark, sodass die Bilanz hier neutral ausfällt.

Fazit
Die Detailanalyse der Wählerbewegungen fällt damit im Grossen und Ganzen so aus, wie es Wahlforscher erwarten. Die Faustregeln bewahrheiten sich: Mobilisierung entscheidet an den Polen, Wechselwählen im Zentrum.

Den ganzen Datenblog finden Sie im RepublikMagazin vom 16.9.2019 unter