Wenn nur die Auslandschweizerinnen und -schweizer alleine entscheiden würden …

Kolumne für Swissinfo, 12. September 2019

In der Berichterstattung zum jüngsten SRG-Wahlbarometer ging fast ganz unter, dass sich die grösste aller Veränderungen bei den Auslandschweizer- und schweizerinnen abzeichnet. Die Auslege- und Einordnung.

Gemäss jüngstem SRG-Wahlbarometer hätten die Auslandschweizerinnen und Auslandschweizer Ende August 2019 zu 23% die Grüne Partei wählen wollen. Damit wäre diese erstmals die stärkste Partei überhaupt gewesen, neu von der FDP mit 18%, SP und SVP mit je 16%, GLP mit 11% und CVP mit 8% gefolgt.
Markant sind die Veränderung gegenüber dem Wahlbarometer im Juni 2019. Damals lag die SVP noch vor der SP und der FDP an der Spitze. Erst dahinter folgte die GPS an vierter Stelle.
Das spricht für einen gründlichen Grünrutsch gerade unter den ausgewanderten Schweizerinnen und Schweizern, die von ihrem Wahlrecht Gebrauch machen wollen. Denn die Grünen gewannen in weniger als 3 Monaten 7 Prozentpunkte hinzu. Umgekehrt verlor die SVP mit einem Minus von 7 Prozentpunkten am meisten.

Globale Klimadebatte wirkt sich neu aus
Der Hauptgrund für die neue Tendenz ist offensichtlich: Die Klimadebatte wird seit Anfang 2019 global geführt. In Europa, ja überall auf der Welt, gibt es Schülerstreiks. Sie wollen die Öffentlichkeit aufrütteln, längst bekannte wissenschaftliche Erkenntnissen zum Klimawandel popularisieren und damit politisches Handeln zugunsten des Pariser Abkommens für eine verstärkte CO2-Politik einleiten.
Das zeigt Wirkung, neu auch bei den Auslandschweizerinnen und -schweizern. Man kann sie als eigentliche Speerspitze bei der neuen grünen Welle bezeichnen. Denn die Schweizer Grünen und die GLP sind heute im Ausland stärker als im Inland. Und die Grünen wachsen unter den Ausgewanderten deutlich schneller als bei den Daheimgebliebenen.
Die Öko-Frage steht allerdings nicht alleine da. Unverändertes Hauptproblem der Fünften Schweiz ist die Schweizer Europapolitik. Auch da ist die Betroffenheit der Auslandschweizerinnen und -schweizer gegeben. Sie fürchten, bei einem gänzlichen Scheitern des Rahmenabkommens mit der EU negative Auswirkungen zu spüren zu bekommen. Unterstützt wird diese Auffassung durch die dritte grosse Sorge, die sich um die schwindende wirtschaftliche Wettbewerbsfähigkeit des Landes dreht.
Dieses Sorgenbündel wird heute namentlich der SVP angelastet, die sich konsequent gegen die EU-Integration der Schweiz stellt und die Kündigung der Personenfreizügigkeit zwischen der Schweiz und der EU zum Ziel hat. Wenigstens im Wahlbarometer gibt es dafür im Aus- und Inland eine deutliche Quittung.

Gründe für die üblicherweise geringe Wahlbeteiligung

Selbstredend soll man zurückhaltend bleiben, aufgrund einer Online-Umfrage weitreichende Aussagen über alle Auslandschweizerinnen und -schweizer zu machen. Denn die Wahlbeteiligung der Fünften Schweiz ist insgesamt gering. 2015 beteiligte sich genau ein Viertel der als Wahlberechtigte registrierten Auslandschweizerinnen und Auslandschweizer bei den Nationalratswahlen.
Bezogen auf die knapp 800’000 Schweizerinnen und Schweizer, die im Ausland leben, waren es gar weniger als 5 Prozent.
Hauptgrund hierfür ist die andere Lebenswelt der Auslandschweizerinnen und -schweizer. Probleme in der Schweiz erscheinen häufig weniger bedeutsam, und man will sich als Auslandschweizer oder Auslandschweizerin nicht zu stark einmischen.
Wer vom Ausland aus politisch aktiv ist, identifiziert sich in der Regel stark mit der Schweiz, hat ein hohes politisches Interesse und kann sich auch unter erschwerten Umständen einfach ein Meinung bilden.
Es gibt aber auch Hürden: Die wichtigste ist die Zeit, die es braucht, bis das Wahlmaterial eintrifft und retourniert ist. Anders als im Inland, wo man sich zur Not auch erst am Wahlsonntag entscheiden kann, ist Wählen und Abstimmen bei Schweizerinnen und Schweizern im Ausland ein Prozess von meist einigen Wochen.
Problematisch sind vor allem die zweiten Wahlgänge bei Ständeratswahlen. Denn kurze Fristen reichen da nicht aus, sich selbst bei gutem Willen zu beteiligen.

Selektive Beteiligung wahrscheinlicher

Wie im Inland auch, ist die Beteiligung der Auslandschweizerinnen und -schweizer an Wahlen, besonders aber bei Abstimmungen, selektiv. Ob man teilnimmt oder nicht, hängt vom Thema und der Problematisierung via Internet ab.
Wie bei allen gesellschaftlichen Gruppen mit geringer Beteiligung macht die Mobilisierung im konkreten Fall viel aus.
Wenn das Thema auch im Ausland interessiert und die Problematisierung der Folgen von Volksentscheidungen hoch ist, beteiligen sich mehr, auch mehr Auslandschweizer- und schweizerinnen.
Das Beispiel der Volksabstimmung vom 26. Februar 2016 zeigte dies: Als es um die konsequente Ausschaffung kriminell gewordener Ausländerinnen und Ausländer aus der Schweiz ging, wie es die SVP wollte, beteiligten sich über 35 Prozent der Auslandschweizerinnen und Auslandschweizer. In der französischsprachigen Schweiz beteiligten sich vor allem jene, die die Initiative befürworteten, in der deutschsprachigen zusätzlich die Gegnerinnen und Gegner.

Progressivere AuslandschweizerInnen

Systematisch kennt man das Stimmverhalten der Fünften Schweiz seit der Publikation einer Auswertung zu insgesamt 62 Volksabstimmungen zwischen 2002 und 2017.
Klarer für Reformen war die Ausgewanderten namentlich beim Familienartikel, der Energiewende, der Rentenreform und der erleichterten Einbürgerung. Sichtbar wurde ein Trend zu Unterschieden auf der Achse zwischen «Konservativ vs. Modern». Schweizerinnen und Schweizer im Ausland stimmen zunehmend moderner, jene im Inland bleiben konservativer.
Unterschiedliche Mehrheiten sind dennoch recht selten. Ein solcher Fall kommt in etwa einer von sieben Volksabstimmung vor und ist meist nicht relevant.
Das war etwa bei der SVP-Volksinitiative «Gegen Masseneinwanderung» typischerweise der Fall. Die Auslandschweizerinnen und Auslandschweizer lehnten sie deutlich ab, während die Inlandschweizerinnen und -schweizer knapp für die autonome Steuerung der Zuwanderung war – genau so, wie auch das Gesamtergebnis lautete.
Wenn die Auswirkungen auf die nationalen Ergebnisse der Volksabstimmungen gering bleiben, hat dies mit dem Gewicht aller Auslandschweizerinnen und Auslandschweizer, die stimmen, zu tun. Macht die Gesamtheit aller Schweizerinnen und Schweizer im Ausland rund 10 Prozent der Nation aus, ist ihr Anteil bei Abstimmungen fünf Mal tiefer. Mit rund 2 Prozent der Stimmenden sind sie etwa so stark wie die Kantone Neuenburg oder Schwyz.

Fazit: ein kleiner, aber wachsender Graben

Immerhin, in der laufenden Legislaturperiode verdichteten sich bei Volksabstimmungen die Hinweise, dass die unterschiedlichen Optiken zwischen Ausland- und Inlandschweizerinnen und -schweizern wachsen. Wie gesagt macht sich bei den Stimmenden in der Fünften Schweiz ein Trend zu progressiven Werthaltungen breit.
Das findet aktuell seinen Ausdruck in den dezidierteren Reaktionen auf zwei der grossen Herausforderungen der Schweiz: mehr Europa und mehr Klimaschutz sind die Gebote der Stunde aus Sicht der Fünften Schweiz.
Den Parteien bleiben noch gut fünf Wochen, sich auf diese Stimmen einzustellen.