Expertise als Vermittlung von Wissenschaft und Politik

Morgen schliesse ich meine Vorlesung an der Uni Zürich zu “Wahlforschung zwischen Theorie und Praxis” ab. Hier die These.

Sollen PolitwissenschafterInnen öffentliche Farbe bekennen oder neutral berichten? Seit sich Michael Hermann in der Schweiz per Tagi-Kolumne prominent vom kühlen Rechner verabschiedet hat, ist das auch in der Schweiz eine Kontroverse in Fachkreisen. Vermehrt gefordert wird seither, Haltung einzunehmen und wertorientiert Stellung zu nehmen. Doch es gibt auch Gegenstimmen, welche auf Neutralität beharren.

Meines Erachtens in die Frage falsch stellt. Denn es geht nicht um persönliche Präferenzen, vielmehr um strukturelle Beziehungen. Der deutsche Philosoph Jürgen Habermas hat vor vielen Jahren drei modellhafte Konstellationen zwischen ExpertInnen und Politik herausgearbeitet; kurz zusammengefasst sagen sie:

In der Technokratie geht man von einem generellen Versagen der Politik aus. Sie müsse durch eine Herrschaft der Expertinnen abgelöst werden. Sie sollten die Ziel der Politik bestimmen und die dafür notwendigen Mittel festlegen. In der Klimapolitik schimmert dieses Modell immer deutlicher durch. Zum verbreiteten Normalfall ist es namentlich in der Aussenpolitik, aber auch in Verkehrs- und Energiefragen oder in der Gesundheitspolitik geworden. Politik wird da weitgehend auf die Rolle legitimierter Kommunikatoren alternativloser Entscheidungen beschränkt.

Dezisionimus nennt Habermas das Verhältnis dann, wenn die Politik sichtbar die allgemein verbindlichen Entscheidungen trifft. Das schliesst Beratungen im Vorfeld durch policy consulting oder im Nachgang durch communication consulting nicht aus. Expertinnen sind dann da, möglicher Ziele resp. Mittel der Politikerinnen zu optimieren. Respektiert werden muss die Hohheit der Politik, die Entscheidungen selber treffen zu können. ExpertInnenen melden sich öffentlich sehr wohl zu Wort, sind dabei aber keine ErsatzpolitikerInnen.

Im Vermittlungsmodell sind die Sphären der Politik und der ExpertInnen getrennt. Beide entwickeln eigene Diskurse. Doch stehen sie sich nicht fremd gegenüber, sondern befinden sich in einem geregelten Austausch wie beispielsweise Hearings, Expertenräte oder praxisorientierte Kongresse. Das kann sich über alles erstrecken, Hauptsache ist, das Ziel oder Mittel gemeinsam reflektiert werden. Die ExpertInnen hegen keine Absicht, politische Macht auszuüben, und die Politikerinnen sehen Expertinnen nicht nur als Machttechniker.

Das erste Modell habe ich kaum je unterstützt. Das zweite habe ich sehr wohl praktiziert. Heute neige ich zunehmend zum dritten.

Als Experte etwa bei Wahlen soll man sehr wohl mit den relevanten Akteure in Verbindung stehen. Berührungsängste sind fehl am Platz. Allerdings muss man sich stets im Klaren sein, das die Politik nach Macht strebt, nicht nach Wahrheit. Diese zu sichern, bleibt die Kernaufgabe der Wissenschaft. Als Experte steht man aber zwischen Wissenschaft und Politik. Denn es geht nicht nur um Wissensproduktion, es geht auch um das Können in der Praxis.

ExpertInnen können sich nur auf abstrakte Erklärungen beschränken, was die Haupttätigkeit der akademischen Wahlforschung ist. Sie müssen auch in der Lage sein, in einem konkreten Kontext Diagnosen zu stellen und Prognosen zu machen. Von einem Akademiker erwartet man das meist nicht.
ExpertInnen sind wie WissenschafterInnen, wenn es um Methodisches geht. Sie sind aber ausgewiesen, wenn es um ihre Anwendung ausserhalb der Forschung geht.
Genau das meint übrigens das lateinische Wort “expertus”. Zu Deutsch: “erprobt”.
Ich hoffe, Sie alle schaffen das!

Claude Longchamp