Die stabile Kammer. Was das Ergebnis bei Ständeratswahlen bestimmt.

Bei den nationalen Wahlen bahnt sich ein Links-Grün-Rutsch an. Aber nur im Nationalrat. In der kleinen Kammer stehen die Zeichen anders. Ein Rück- und ein Ausblick zu den Ständeratswahlen.

Zum Einstieg in diesen Text eine Warnung: Es wäre vermessen, jetzt schon die Ständerats­wahlen vom Herbst zu prognostizieren. Nicht einmal am Abend des ordentlichen Wahl­tages vom 20. Oktober wird man wissen, welche Kandidaten das Rennen gemacht haben. In etwa der Hälfte der Kantone dürfte es zu einem zweiten Wahl­gang kommen. Dabei wird das Feld der Bewerber neu gemischt, was immer wieder zu Überraschungen führt.
Trotzdem wagen wir an dieser Stelle eine Vorschau. Und zwar mit einem Set von Regeln, die sich bei früheren Vor- und Nachhersagen bewährt haben.

Rückblick
Wie wird der Ständerat nach den Wahlen zusammengesetzt sein?
Eine erste Annäherung ergibt sich aus den bisherigen Verhältnissen. Nach der gestrigen Nachwahl in St. Gallen, bei der die CVP einen Sitz von der FDP eroberte, präsentiert sich die Lage im 46-köpfigen Rat folgendermassen:
– 14 Sitze sind bei der CVP,
– 12 Sitze sind bei der FDP,
– 12 Sitze sind bei der SP,
– 5 Sitze sind bei der SVP,
– jeweils 1 Sitz ist bei den Grünen, der BDP und bei Parteilosen.
Mit CVP und FDP beherrschen zwei bürgerliche Parteien also den Ständerat. Zusammen verfügen sie mit 26 der 46 Sitze über eine hinreichende Mehrheit.
Diese halten sie nach wie vor, trotz Einbussen seit den 1990er-Jahren und trotz des beachtlichen Aufstiegs der SP. Sie gewann seit 1991 konstant hinzu. Ganz anders die SVP, die nach 2003 verschiedene Kantons­abgeordnete verlor.
Die folgende Grafik zeigt die Sitz­verteilung in den vergangenen hundert Jahren. Bemerkenswert ist die langjährige Stabilität, namentlich der CVP.


Quelle: BFS. FDP inkl. LPS. Übrige = Demokraten, LdU, GLP, BDP, GPS, Lega und weitere Parteien. 2019 = aktueller Stand nach Nachwahlen im Kanton St. Gallen.

Der Ständerat ist damit bürgerlicher und zentrierter als der Nationalrat – und wird dies aller Voraussicht nach auch in der nächsten Legislatur bleiben.
Der wichtigste Grund dafür ist das Majorz­system, das in den meisten Kantonen zur Anwendung kommt. Es zentriert erfolgreiche Kandidaturen. Entsprechend sind politische Paradies­vögel in der kleinen Kammer seltener anzutreffen als in der grossen. Dafür bestimmt die Konsens­suche das Geschehen, und man politisiert regierungsnaher als im Nationalrat.
Sinnbildlich dafür steht die Entwicklung der SVP. Sie grenzte sich seit der Jahrtausend­wende mit ihren Positionen von den restlichen Parteien ab und gewann damit Sitze im National­rat. Die Polarisierung schadete ihr aber bei Ständerats­wahlen: Hier zählt, dass man mit mindestens einer, allenfalls sogar zwei Parteien kooperiert und dafür mehrheitsfähige Bewerbungen vorschlägt.
Trotz aller Unwägbarkeiten lässt sich somit sagen: Der Stände­rat wird seine stabilisierende Rolle in der Politik auch in der nächsten Legislatur behalten.
Diese Voraussage bestätigt sich, wenn man in die einzelnen Kantone blickt.

Drei Regeln für eine Prognose
Hier zählt nicht nur die Persönlichkeit, wie man landläufig meint, sondern ein Mix aus dem persönlichen Profil, aus den politischen Merkmalen eines Kantons und aus der aktuellen Konstellation bei den Wahlen.
Meine drei erprobten Regeln zur Vorhersage von Ständerats­wahlen lauten:
1.Bisherige Rats­mitglieder werden fast immer wieder gewählt.
2.Tritt ein Rats­mitglied zurück, so ist der Kandidat aus derselben Partei im Vorteil.
3.Um bisherigen Parteien einen Sitz abzujagen, braucht es Herausforderer mit starkem Profil – sei es als Regierungs- oder National­rat oder mit Erfahrung bei Majorzwahlen.
Diese Regeln erlauben es, auf Spekulationen weitgehend zu verzichten. Eine Gefahr liegt allerdings darin, dass neue Trends unterschätzt werden könnten.
Ein solcher Trend könnte beispielsweise bei den Geschlechtern einsetzen. Der Frauen­anteil im Parlament ist über die vergangenen Jahre beständig gesunken: 2003 lag er bei 23 Prozent, aktuell liegt er noch bei 15 Prozent.

Gut möglich, dass sich die Kurve dieses Jahr wieder in die andere Richtung bewegt. Die Geschlechter­gleichstellung ist ein Thema, das aktuell viele Menschen im Land mobilisiert, etwa über Bewegungen wie «Helvetia ruft!».
Weil der Einfluss solcher Trends aber schwer abzuschätzen ist, bleiben wir für diesen Beitrag bei den bewährten drei Regeln.

Regel 1: Bisherige werden wiedergewählt
Bisherige Ständeräte sind meist erfahrene Politikerinnen, die ihre Chancen gut einschätzen können. Das gilt auch für ihre denkbaren Konkurrenten: Sie wagen sich häufig erst dann vor, wenn sich eine Lücke öffnet. In aller Regel werden Bisherige deshalb wiedergewählt – es sei denn, ein Skandal stelle den Wahl­kampf auf den Kopf. Unter den 26 Ständeräten, die im Herbst erneut zur Wahl antreten wollen, zeichnet sich derzeit aber kein solcher Skandal ab.
Ernsthafte Konkurrenz zu den bisherigen Stände­räten ist bloss in zwei Kantonen erkennbar. Einerseits in Schaffhausen, wo sich der Parteilose Thomas Minder seit acht Jahren im Amt hält. Herausgefordert wird er vom FDP-Regierungs­rat und letztjährigen Bundesrats­kandidaten Christian Amsler. Ein zweiter Wahl­gang ist wahrscheinlich, Minder bleibt aber Favorit.
Andererseits könnte es im Kanton Zürich kritisch werden. Hier wollen Daniel Jositsch (SP) und Ruedi Noser (FDP) ihr Mandat verteidigen. Misstöne kommen von Roger Köppel (SVP), dem bestgewählten National­rat aller Zeiten, und von Tiana Angelina Moser, deren GLP nirgends so stark ist wie in Zürich. Möglich, dass Noser in den zweiten Wahl­gang muss. Hart wird es für ihn, wenn er gleichzeitig von rechts und aus der Mitte angegriffen wird und die SP ihn fallen lässt. Bis dahin bleibt jedoch auch Noser der Favorit.
Bei der Aufschlüsselung nach Parteien zeigt sich: CVP und FDP sind in einer günstigen Lage. Diesen Herbst treten nur vier Stände­räte aus ihren Reihen zurück. Brenzliger wird es für die SP. Von ihren zwölf bisherigen Ständeräten treten nur fünf erneut zur Wahl an. Die Sozial­demokraten stehen also vor der grössten Herausforderung der drei Parteien, die den Ständerat dominieren.

Damit sind wir bereits bei der zweiten Regel angelangt. Sie betrifft die Frage: Was passiert, wenn ein Stände­rat zurücktritt? Wer ersetzt ihn?

Regel 2: Kantonale Parteitraditionen verschaffen Vorteile

In einer Reihe von Kantonen entsteht im Herbst eine Einervakanz: Ein Sitz wird «frei», weil kein bisheriger Ständerat ihn weiter beanspruchen will.
Der wichtigste Faktor bei diesen Vakanzen ist die Partei des vormaligen Mandats­trägers – unsere Regel Nummer 2. Ein weiterer Faktor ist das persönliche Profil: Bekleidet eine Kandidatin bereits ein hochrangiges Amt, etwa in der Kantons­regierung oder im National­rat, verschafft ihr das Vorteile. Vereint ein Kandidat sogar beide Attribute, ist er so gut wie gewählt.
Gegeben ist das in Basel-Stadt. In der sozial­demokratischen Hoch­burg stellt sich SP-Regierungs­rätin Eva Herzog als designierte Nachfolgerin von Anita Fetz der Wahl. Das ist schon die halbe Miete, zumal sich die Opposition nicht auf einen Kandidaten einigen kann.
Favoritinnen sind gemäss dieser Regel auch Beatrice Simon (BDP) im Kanton Bern, Heidi Z’graggen (CVP) in Uri und Jakob Stark (SVP) im Thurgau. Sie alle dürften den Sitz ihrer zurücktretenden Partei­genossen wohl verteidigen.
Regierungs­rat Jakob Starks SVP ist im Thurgau klar wählerstärkste Partei. Er sollte für Roland Eberle nachrücken können, der nicht mehr antritt. Heidi Z’graggens CVP liegt in Uri an zweiter Position, doch auch sie sollte den Sitz des zurücktretenden Isidor Baumann halten können. Am unsichersten ist die Wahl von Beatrice Simon, die den Sitz von Werner Luginbühl erben will. Doch Simon hat schon zwei Majorz­wahlen mit Bravour bestanden: Die Bernerinnen wählten sie mit einem Spitzen­resultat in den Regierungsrat.
In Kantonen ohne kandidierende Regierungs­räte sind National­räte der grösseren, bisherigen Parteien mit einer Vakanz zu favorisieren. In Luzern ist das Andrea Gmür von der CVP (für den zurücktretenden Kollegen Konrad Graber), in der Waadt Ada Marra von der SP (für Kollegin Géraldine Savary). Die grüne Kandidatin Adèle Thorens hat wohl nur Aussenseiter­chancen.
An sich gilt das auch für den Kanton Wallis. Doch da kandidiert für den frei gewordenen zweiten CVP-Sitz Partei­präsidentin Marianne Maret, ganz ohne Erfahrung in der nationalen Politik. Das macht das Ganze offener als auch schon. Zudem ist die Konkurrenz mit den profilierten National­räten stark. Doch nur wenn sie sich für die zweite Runde auf einen Herausforderer einigen sollten, haben sie reelle Wahlchancen.

Regel 3: Starke Herausforderer haben Majorzerfahrungen

Fordert ein Kandidat mit starkem persönlichem Profil die Partei des bisherigen Amts­trägers heraus, wird es spannend. Dann greift Regel 3. Es ist die einzige Regel, die Sitz­wechsel von einer Partei zur anderen vorhersagt.
Zu einem solchen Sitz­wechsel könnte es im Kanton Zug kommen. Dort steigt Regierungs­rat Heinz Tännler (SVP) ins Rennen um den frei werdenden Sitz, den bisher Joachim Eder von der FDP innehatte – mit reellen Wahl­chancen. Immerhin, die FDP hat die Herausforderung erkannt und ihrerseits mit Matthias Michel einen Alt-Regierungsrat nominiert. Das letzte Wort wird wohl die CVP als stärkste Partei im Kanton haben, mit ihrer Empfehlung.
In Schwyz zeichnet sich das umgekehrte Szenario ab. Dort ist Regierungs­rat Kaspar Michel (FDP) nach seinem Glanz­resultat bei den vergangenen Regierungsrats­wahlen der eigentliche Favorit für den Ständerats­sitz, den zurzeit noch Peter Föhn hält – die SVP besetzt momentan beide Schwyzer Sitze. Konkurrenz für Michel kommt von der CVP, die mit Othmar Reichmuth ebenfalls einen amtierenden Regierungs­rat ins Rennen schickt.

Die grossen Fragezeichen angesichts starkem Wettbewerb

Der Wert unserer Regeln vermindert sich jedoch, wenn in einem Kanton alle Sitze frei werden. Dann kommt dem Wahl­verfahren eine grosse Rolle zu.
Zwei Kantone wenden das Proporz­verfahren an: Neuenburg und Jura. Hier ist die Partei­stärke massgeblich fürs Resultat. In Neuenburg sind SP und FDP, im Jura CVP und SP die wählerstärksten Parteien. Sie dürften die kommenden Stände­räte unter sich ausmachen, genauso wie bisher.
Die meisten Kantone wählen ihre Stände­räte aber im Majorz­verfahren. Hier ist die Sache komplizierter – es geht wiederum stärker um Personen.
Zwei dieser Kantone verzeichnen im Herbst eine Doppel­vakanz: Genf und Aargau. In Genf ist die parteipolitische Polarisierung hoch. Rotgrün tritt mit den National­räten Carlo Sommaruga (SP) und Lisa Mazzone (Grüne) geeint an. Derweil profilieren sich die bürgerlichen Parteien mit drei einzelnen Bewerbungen. Denkbar ist ein zweiter Wahl­gang mit einem Angriff des mitfavorisierten FDP-Kandidaten, Nationalrat Hugues Hiltpold. Allerdings ist die Genfer FDP nach der Affäre um Pierre Maudet innerlich geschwächt.
Im Aargau kamen die Bisherigen von der SP und der FDP. Bei der FDP hat der Ständerats­sitz Tradition, nicht aber bei der SP. Pascale Bruderers Erfolg vor acht und vier Jahren war eher die Ausnahme. Das Kandidaten­feld ist gross, ein zweiter Wahl­gang wahrscheinlich. Dabei ist nicht auszuschliessen, dass sich SVP und FDP arrangieren und Hansjörg Knecht (SVP) und Thierry Burkart (FDP) gewählt werden – während Cédric Wermuth (SP) leer ausgeht.
Im Halbkanton Baselland kämpfen drei Schwer­gewichte aus dem National­rat um den einzigen Ständerats­sitz. Chancen haben alle: Eric Nussbaumer (SP) aus der Partei des bisherigen Stände­rats, Daniela Schneeberger (FDP), die auch mit SVP-Stimmen rechnen kann, und Maya Graf, ehemalige Nationalrats­präsidentin von den Grünen. Im zweiten Wahl­gang dürfte es entweder zu einer Bereinigung des Kandidaten­feldes auf linker Seite kommen – oder aber zu einem Wechsel des Sitzes zur FDP.
Das grösste Frage­zeichen existiert schliesslich im Tessin. Sicher ist, dass ein Sitz der FDP frei wird – Fabio Abate tritt nicht mehr an. Auf der anderen Seite ist CVP-Mann Filippo Lombardi noch unschlüssig, ob er nach fünf Amts­perioden ein weiteres Mal antreten soll. Das erschwert die Einschätzung erheblich. Wir verzichten fürs Tessin deshalb auf eine Auslegeordnung.

Bilanz
Unter dem Strich zeichnen sich damit keine grösseren Verschiebungen ab. Anders als im National­rat, wo für die Wahlen im Herbst ein Links-Grün-Rutsch möglich ist, prägt im Stände­rat die parteipolitische Stabilität das Bild.
Dass die SP ihre Erfolgs­strähne der letzten Austragungen fortsetzen kann, ist unwahrscheinlich. Sie hat bei den diesjährigen Ständerats­wahlen keine Gewinn­chance, muss aber mit bis zu zwei Verlusten rechnen. Die CVP dürfte nach dem gestrigen Gewinn in St. Gallen kaum weitere Mandate erringen. Doch steht sie besser da als die SP und wird womöglich all ihre bisherigen Sitze verteidigen. Veränderungs­potenzial gibt es bei FDP und SVP, möglicherweise neutralisieren sich Gewinne und Verluste dort allerdings. Ein allfälliger Sitzgewinn für die SVP wäre für die Partei eine Trendwende.
Wichtiger bleibt die Frage nach den gewählten Personen. Da dreht sich gegenwärtig alles um den Frauen­anteil. Wir rechnen mit einem moderaten Wiederanstieg. Gefährdet ist der Frauen­sitz im Aargau. Gute Chancen haben aber Frauen in den Kantonen Uri, Luzern, Wallis und Neuenburg, und zwar auf einen bisherigen Männer­sitz. Das würde für drei zusätzliche Frauen im neuen Stände­rat sprechen – kein grosser Sprung, aber eine Wende.

Parteien und ihre Wahlchancen bei den Ständeratswahlen 2019

CVP
Bisherige Ständeräte
Daniel Fässler AI (bereits gewählt), Beat Vonlanthen FR, Stefan Engler GR, Erich Ettlin OW, Benedikt Würth SG, Pirmin Bischof SO, Brigitte Häberli-Koller TG, Beat Rieder VS, Peter Hegglin ZG, JU (Proporzwahl). Unklar: Filippo Lombardi TI
Neue Kandidaten
Hohe Chance: Andrea Gmür LU, Heidi Z’graggen LU. Mittlere Chance: Marianne Maret VS, Othmar Reichmuth SZ.
Sitzgewinne: keiner. Sitzverluste: keiner.

FDP
Bisherige Ständeräte
Thomas Hefti GL, Martin Schmid GR, Damian Müller LU, Hans Wicki NW, Josef Dittli UR, Olivier Français VD, NE (Proporzwahl), Ruedi Noser ZH
Neue Kandidaten
Hohe Chance: Thierry Burkart AG, Kaspar Michel SZ. Mittlere Chance: Daniela Schneeberger BL. Niedrige Chance: Matthias Michel ZG. Unklar: Giovanni Merlini TI
Sitzgewinne: SZ, evtl. BL. Sitzverluste: ZG

SP
Bisherige Ständeräte
Hans Stöckli BE, Christian Levrat FR, Roberto Zanetti SO, Paul Rechsteiner SG, Daniel Jositsch ZH
Neue Kandidaten
Hohe Chance: Eva Herzog BS, Carlo Sommaruga GE, Ada Marra VD, JU (Proporzwahl), NE (Proporzwahl). Mittlere Chance: Eric Nussbaumer BL. Niedrige Chance: Cédric Wermuth AG.
Sitzgewinne: keine. Sitzverluste: AG, evtl. BL

SVP

Bisherige Ständeräte
Werner Hösli GL, Hannes Germann SH, Alex Kuprecht SZ
Neue Kandidaten
Hohe Chance: Jakob Stark TG. Niedrige Chance: Pirmin Schwander SZ.
Sitzgewinne: ZG, AG. Sitzverluste: SZ

Übrige

Bisherige Ständeräte
Thomas Minder SH (parteilos)
Neue Kandidaten
Hohe Chance: Lisa Mazzone GE (Grüne), Beatrice Simon BE (BDP). Mittlere Chance: Maya Graf BL.
Sitzgewinne: evtl. BL (Grüne). Sitzverluste: keiner