Hat die Milizarbeit eine Zukunft? – Eine neue Studie ortet fünf Handlungsfelder für Verbesserungen

“Hat die Miliztätigkeit Zukunft?” Zurecht stellt ein neues Buch aus dem Institut für Politikwissenschaft der Uni Bern und dem IDHEAP an der Uni Lausanne die Frage. Denn die Krisensymptome der traditionellen Politikform in der Schweizer Gemeinde sind unübersehbar. Ohne Reformen überlebt sie nicht, mit vielleicht. Was mir bei der Lektüre “Milizarbeit in der Schweiz” haften geblieben ist.

«Ich denke, 2040 haben wir nur noch Profi-Behörden.» Das ist keine Aussage eines Technokraten an einer Schweizerischen Verwaltungsfachschule. Vielmehr stammt sie aus einem Interview der Limmattaler Zeitung mit Jörg Kündig, dem Präsidenten des Gemeindepräsidentenverbandes. Einem überzeugten Milizler!

Ursachen der Krise
Im Buch «Milizarbeit in der Schweiz» ziert die Aussage eine Fussnote. Doch hat sie es in sich! Denn sie drückt aus berufenem Munde die Sorge aus, mit dem Milizsystem breche eine der vier typischen Eigenheit des politischen Systems der Schweiz in der nächsten Generation weg. Es blieben noch der Föderalismus, die direkten Demokratie und die Konkordanz, doch alles ohne die Bodenhaftung, die sich namentlich aus der Politik im Nebenamt ergibt.
Die Buchautoren Markus Freitag, Pirmin Bundi und Martina Flick Witzig sehen das Problem wie folgt: Globalisierung, Wohlstand und Mobilität haben eine Vielzahl an neuen Optionen der Lebensgestaltung geschaffen. Freizeitangebote sind bezahlbar, erreichbar und verlockend geworden. Das hat sie umfassend populär gemacht. Dazu kommt das Verlangen nach Ruhepausen und Abwechslung von den Belastungen und Herausforderungen in der Arbeitswelt: «Der freiwillige Dienst an der Gemeinschaft rangiert weit hinter der Selbstverwirklichung, dem beruflichen Vorwärtsstrampeln und dem Freizeitvergnügen” liesst man im Buch, das der NZZ Libro Verlag dieser Tage publiziert, ziemlich unverblümt.

Befunde zum Status Quo
1800 Milizler und Milizlerinnen aus 75 Gemeinden sind für das jüngste politologische Werk der Schweiz ausführlich interviewt worden. Hauptbefund: «Bei der Beurteilung ihrer Tätigkeit anerkennen die Befragten zwar eine ausgeprägte Kollegialität unter den Miliztätigen und eine reibungslose Zusammenarbeit mit der Verwaltung. Allerdings klagen sie über Zeitdruck, fehlende Anerkennung des gesellschaftlichen und medialen Umfelds und über Probleme mit der Vereinbarkeit von Beruf, Amt und Familie.»
Zu spüren bekommen dies vor allem kommunale Exekutivmitglieder, denn sie arbeiten doppelt so viel für ihr Nebenamt wie gewählte GemeindeparlamentarierInnen. Und ihre politische Präsenzzeit hat sich von den bekannten Abendsitzungen hin zu Besprechungen untertags verlagert. Abkömmlichkeit wird da zur zentralen Voraussitzung, – Entlastung zuhause auch.
Lauter noch als in der deutschsprachigen Schweiz sind die Klagen in der Suisse Romande, denn hier gibt es aus der Chefetage ihres beruflichen Umfeldes mehrheitlich keine Unterstützung für die Miliztätigen.

Handlungsfelder als Auswege
Fünf mögliche Handlungsfelder identifizieren die Berner Politikwissenschaftler und Politikwissenschaftlerin: den Zwang, den Anreiz, die Organisation, die Information und die Ausbildung.
• Am einfachsten, aber am unbeliebtesten ist der Zwang. Er basiert auf gesetzlichen Vorschriften zur Amtsübernahme – bei ehrenamtlicher Tätigkeit letztlich aber ein Widerspruch in sich.
• Populärer sind Anreize. Eine Verbesserung der finanziellen Entschädigungen oder eine steuerliche Erleichterung für Milizpolitiker und Milizpolitikerinnen stehen hier im Vordergrund. Zielgruppe sind hier die hochbelasteten Exekutivmitglieder. Bei Jüngeren könnten zudem arbeitsmarktrelevante Anerkennungen wie Zertifizierungen wirken. Unisono wünschen sich die Befragten mehr Wertschätzung durch Gesellschaft und Medien.
• Bei Verbesserungen der Organisation wird heute schon die Trennung zwischen strategischer und operativer Führung gelebt, um die nebenamtlichen Exekutivmitglieder zeitlich zu entlasten. Neu in die Runde geworfen werden mit der Studie Geschäftsleitungs-, Delegierten- resp. CEO-Modelle. Sie sollen die nebenamtlichen Politiker und Politikerinnen weiter entlasten, etwa bei der Personalführung in der Verwaltung.
• Eine verbesserte Rekrutierung verspricht man sich von Informationskampagnen, wie sie aktuell der Schweizerische Gemeindeverband mit dem «Jahr der Milizarbeit» durchführt. Damit kann man das Wissen zur Milizarbeit verbreitern und so für mehr Interesse sorgen.
• Schliesslich noch die Ausbildung: Zielgruppen sind hier die kommenden oder gerade eingestiegenen Milizpolitikerinnen und Milizpolitiker. Denn ein Viertel von ihnen bekundet, sich gerade am Anfang materiell überfordert zu fühlen. Frauen sind hier über dem Mittel vertreten.
Die Autoren ordnen die vorgeschlagenen Verbesserungen in die grosse Geschichte des Milizsystems in der der Schweiz ein. Dabei verhehlen sie nicht, dass die Lücke zwischen Nachfrage und Angebot bei Gemeindepolitikerinnen und Gemeindepolitikern bisher nur deshalb vergleichsweise gering blieb, weil in den letzten 25 Jahren gut ein Viertel aller Gemeinden durch Fusionen verschwunden sind. Ohne diesen Rückgang der Gemeinden wäre das Problem bereits dramatisch! Namentlich in Kantonen mit vielen Fusionen in der Gegenwart dürfte dieser Lösungsansatz bald ein Ende haben.

Hat die Milizarbeit eine Perspektive?

Genau das stellt die Frage nach dem, was in der nächsten Generation kommt: Konkret, hat das Milizsystem also eine Zukunft?
Das Buch beginnt mit einer herzhaften Herleitung des Milizsystems durch Hauptautor Markus Freitag ausgesprochen. Gerne hätte ich mir einen ebenso perspektivischen Buchabgang gewünscht. Denn die Unterminierung des Milizgedankens schreitet gerade an der Gemeindespitze rasant voran. Die vorgeschlagenen Formen der Reorganisation werden diesen Prozess meines Erachtens eher beschleunigen, denn bremsen. Einmal kippt das Ganze! Dann stehen sich wohl Profis in der Regierung Laien im Parlament gegenüber, so wie in vielen Kantonen heute. Einfacher wird das nicht, es droht eine Gewichtsverlagerung zur Exekutive mit schlagkräftigen Gemeindespitzen und Gemeindeverwaltungen.
Man kann das auch so nennen: Bessere Dienstleistungen dank mehr Technokratie, aber weniger Politik wegen der verbliebenen Miliz. Genau das kann ja nicht der Sinn der heute anlaufenden Optimierungen der Miliztätigkeit in der Schweiz sein.
Ich meine, Jörg Kündigs Aussage ist nicht unberechtigt! Dank dem Buch weiss man für heute einiges für den erfolgreichen Weg zur Bewahrung der Miliz unter völlig veränderten Lebens-, Arbeits- und Freizeitbedingungen. Ich zweifle, ob es auch für morgen reicht.

Claude Longchamp