Wirksam ist vor allem der persönliche Dialog

Damit die Leute an die Urnen gehen, müssen die Parteien zu den Leuten hin. Das ist neu im Schweizer Wahlkampf 2019. Das Stichwort ist «Canvassing», Wahlkampf im direkten Dialog mit den Bürgern. Für einige Parteien funktioniert das online gut. Andere setzen besser auf Telefon oder Türklingel.

Campaigning-Spezialisten künden seit geraumer Zeit die digitale Demokratie an. Diese verändere die Wahlkämpfe, sagen sie. Ein professionellerer Journalismus, spezialisierte Werbung und Bürgerkommunikation im Internet würden sich verweben. Alles zusammen ergibt dann den sogenannten hybriden Wahlkampf.

Bei den Wahlen 2015 gab die Statistik zur Mediennutzung der Schweizer diesbezüglich aber noch wenig Anlass zu übertriebenen Erwartungen. Zeitungen, Fernsehen und Radio waren unverändert die wichtigsten Informationsquellen – auch im Wahlkampf. Es folgten die bekannten Propaganda-Mittel der Parteien, allen voran das Plakat und das Inserat.

Zwischenzeitlich ist es aber eindeutig: Alles geht Richtung Internet. Die Zeitung wird online gelesen, TV und Radio werden entbündelt und zeitversetzt im Internet konsumiert. Neu wächst auch die digitale Werbung, seien es digitale Anzeigen oder Äusserungen von Influencern in sozialen Medien.

Die Grünen haben es leicht, die SVP schwer

Alle Parteien in der Schweiz haben ein deutlich grösseres Potenzial in der Wählerschaft, als sie effektiv Wählende bekommen. Das hat zwei Gründe: Die notorisch tiefe Wahlbeteiligung und lockere Parteibindungen. Letztere sorgen dafür, dass Wählende nach Werten, Themen und Köpfen bunt zusammengesetzte Listen zusammenschustern.

Gut im Ausschöpfen ihres eigenen Wähler-Potenzials ist nur die SVP. Mässig vorteilhaft schneiden SP und CVP ab, eher schlecht FDP und BDP. Am meisten potenziell Wählende verschenken so die Grünen und die Grünliberalen.
Daraus lässt sich ableiten: Für die SVP ist eine weitere Steigerung sehr schwierig, für GPS und GLP sehr einfach.

Die letzten Wahlen in den Kantonen haben es gezeigt: Für Grün liegt deutlich mehr drin, die SVP dagegen hat den Zenit erreicht.

Digitale Grundlagen für den Dialog an der Haustür

Unter Fachleuten gilt derzeit der modernisierte Wahlkampf an der Haustür als das Gebot der Stunde. Doch nichts ist dabei mehr so, wie beim früheren Klinkenputzen. Dieses überliess vieles dem Zufall.

Neu ist der «door-to-door»-Wahlkampf eine Kombination aus Big-Data-Analysen und persönlicher Ansprache der denkbaren Wählenden.

Exemplarisch angewendet wird dies seit Anfang Jahr durch die FDP Schweiz. Das Forschungsinstitut Gfs war an der Entwicklung dieser Strategie beteiligt. Gerne gebe ich hier Einblick in unsere Überlegungen und unser Vorgehen.

Vorgängig erstellten meine Kollegen eine Potenzialschätzung für jede der 2212 Schweizer Gemeinden. Diese wurde in einem Realitäts-Check mit dem jüngsten Wahlergebnis verglichen. Wo die Partei in der Realität besser als erwartet abschnitt, gilt es zu halten. Wo sie schlechter abschnitt als man erwarten konnte, beginnt für die FDP die eigentliche Arbeit. Denn da ist im Wahlkampf Luft nach oben.

Die letzte Meile der FDP erfolgt zu Fuss

So entstanden in der Planung örtliche Schwerpunkte für den FDP-Wahlkampf 2019. Um optimal vorzugehen, verfeinerten meine Kollegen die Einsatzzentren in einer Gemeinde mittels Lebensstil-Analysen nach Quartier und Strassen Übergeordnete Absicht: gezielt an wahrscheinliche Wählende herankommen.

Erst jetzt folgt aber der Clou: Der Computer sagt den Wahlkampfstrategen nur, wo man hingehen soll; die letzte Meile jedoch unternehmen die Parteimitglieder zu Fuss, denn die Erfahrungen aus den Obama-Wahlkämpfen lehren: Wirksam ist nur die persönliche Ansprache von Bürgerinnen und Bürgern, die man als Wählende gewinnen will.

Allerdings wird auch das elektronisch verarbeitet: Ausgebildete Supporter der Kandidaten führen via iPad Buch, wofür sich die Angesprochenen interessieren, dass sich das Bild der Wählenden mittelfristig verfeinert.

Die FDP lobt in ersten Feedbacks ihre Erfahrungen bei den Testläufen. Als Hauptgrund nennt die Partei, dass sich die Menschen mit ihren Sorgen und Hoffnung ernst genommen fühlten. Sie freuten sich über das Interesse, selbst wenn sie bereits eine Partei im Auge haben.

Eine erste Evaluierung des Haustürwahlkampfes durch den Politologen Urs Bieri zeigt, dass schon jetzt ein halber Prozentpunkt im Wahlergebnis auf den Haustür-Wahlkampf zurückgeführt werden kann. Mit der Perfektionierung des Vorgehens dürfte es glatt 1 Prozent werden. Bei Nationalratswahlen sind das rechnerisch ein Plus von 2 Sitzen.

SP und SVP greifen zum Telefon

Auch andere Partei modernisieren ihre Wahlkämpfe. Die SP setzt auf Telefonmarketing. Das Prinzip ist gleich wie beim Haustürwahlkampf, doch läutet es nicht an der Türe. Interessiert ist neu auch die SVP. Auch sie will im Herbst zum Telefon greifen.

Die CVP wiederum setzt ganz auf Influencer, die in ihrem unmittelbaren Umfeld on- und offline reagieren sollen, wenn beispielsweise Medien kritisch über die Partei berichten. Für die permanente Aufmunterung der Wählerschaft bekommen sie direkte Schützenhilfe aus der Zentrale.

Sozialmedial aktiv sind auch die grünen Parteien. Denn sie sind überzeugt, dass sie so ihr weit verstreutes, mobiles und flexibles Potenzial kostengünstig erreichen könnten. Die Wahlerfolge in jüngster Zeit geben ihnen Recht.

Grüne setzen auf digitale Kampagnen

Lukas Golder, der erfahrene Kommunikationsforscher im Gfs-Institut, meint: Die Grünen und die GLP verstärken mit digitalen Kampagnen ihre intakten Wahlchancen. FDP und SP verbesserten auf ihre Weise ihr denkbares Wahlergebnis. Und die CVP hoffe, nach vielen Wahlniederlagen so die Talsohle zu durchschreiten.

Garantierte Wahlsiege gibt es allerdings nicht. Denn wenn die Positionierung mit Themen und Kandidierenden einer Partei nicht stimmt, nützt auch die professionellste Kontaktnahme nichts.

Da liegt gegenwärtig die Schwäche der SVP. Lange war sie bei der Innovation in der politischen Kommunikation einsame Spitze. Perfektioniert hat sie die top-down-Kommunikation für die Massengesellschaft mit parteipolitisch wenig eingebundenen Wählenden.

Doch nun finden wir die Individualgesellschaft vor. Versierte Bürger machen Politik mit bottom-up-Kommunikation. Und sie setzen ganz auf soziale Medien
Das habe die SVP verschlafen, lautete auch eine parteiinterne Analyse der Wahlen im Kanton Zürich. Und das sei einer der wesentlichen Gründe für die Wahlniederlage im Ursprungskanton der «neuen» SVP, die jüngst so «alt» ausgesehen hat.