Europas Groko zittert um ihre Mehrheit

Welche Parteien um Sitze wetteifern und was die Prognosen voraussagen:
das politologische Briefing zur bevorstehenden EU-Parlamentswahl mit einem Exkurs auf die lange Sicht.

Vom 23. bis 26. Mai 2019 wird in den 28 Mitgliedstaaten der Europäischen Union das 9. Europäische Parlament gewählt. Was an Fraktionsstärken zu erwarten ist, welchen
Hintergrund die Veränderungen haben und was die Folgen sein könnten: Dies diskutieren wir in diesem Beitrag.

1. Die Prognose
Welche Parteien gewinnen, welche verlieren Sitze? Die EU publiziert zur Zusammensetzung des Europäischen Parlaments eine quasi-amtliche Prognose. Die
jüngste datiert vom 18. April und ist damit noch taufrisch.

Zersplittertes Parteiensystem

Die Prognose zeichnet das folgende Bild:
– Es gewinnen die rechten Nationalisten (ENF, hellblau: +24 Sitze), das liberale Zentrum (ALDE, gelb: +8 Sitze), die Grünen und die regionalen Parteien (Grüne/EFA,
grün: +5 Sitze) und die Souveränisten bzw. EU-Skeptiker(EFDD, türkis: +4 Sitze).
– Es verlieren die Sozialdemokraten (S&D, hellrot: –39 Sitze), die Christdemokraten (EPP, dunkelblau: –37 Sitze), die konservativen EU-Reformer (ECR, blaugrau:
–10 Sitze) und die linken Parteien (GUE/NGL, dunkelrot: –6 Sitze).
Im total 751␣Sitze umfassenden EU-Parlament zeichnen sich demnach einige Verschiebungen ab. Wobei das jetzige Bild an den Rändern des Spektrums noch durch
diverse Splittergruppen verzerrt ist («Andere»: total 62 Sitze), die sich im Lauf der
Legislatur eventuell einer Fraktion anschliessen werden.
Zu ähnlichen Schlüssen kommen andere Prognosen. Herausragend dabei ist jene von Simon Hix, Forschungsleiter des European Council for Foreign Relations in
London. Auch er sagt den Rechtsnationalisten, den Liberalen, den Grünen und den EU-Skeptikern Sitzgewinne im Parlament voraus. Hier kommen noch die Linken hinzu.

2. Die Unsicherheiten

Grossbritannien wird gemäss aktuellen Plänen am 31. Oktober 2019 aus der EU austreten. Die britischen Bürgerinnen dürfen demnach an der Wahl teilnehmen –
allerdings könnte ihre Stimme ohne Bedeutung bleiben, wenn die britischen Abgeordneten im Herbst aus dem Parlament ausscheiden.
Dies dürfe namentlich die Konservativen (ECR) und die Sozialdemokraten (S&D) trefen, also die Fraktionen, denen die Tory- und die Labourpartei angeschlossen sind.
Das Gleiche gilt für die Souveränisten (EFDD). Bei dieser Fraktion ist die britische Ukip dabei, die sich neu Brexit-Partei nennt.
Bei der Zusammensetzung des künfigen EU-Parlaments gibt es aber noch weitere Unwägbarkeiten. Sie hängen nicht nur mit dem Verhalten der Wähler, sondern auch
von jenem der gewählten Parteien ab.
Noch nicht klar ist zudem, wem sich Parteien wie La République en marche! (LREM), die neue Präsidentenpartei in Frankreich, oder das Movimento Cinque Stelle
(M5S), die italienische Regierungspartei, anschliessen werden. Sie haben aufgrund ihrer Grösse das Potenzial, eigene Fraktionen zu bilden, könnten sich aber auch
bestehenden Fraktionen anschliessen. Bei LREM kommt vor allem das liberale Zentrum (ALDE) in Frage; die Cinque Stelle sind derzeit bei den EU-Skeptikern
(EFDD), allerdings verliessen im Lauf der letzten Jahre einige Mitglieder die Fraktion.
Nichtsdestotrotz lassen sich aus den Prognosen mehrere Thesen aufstellen.

3. Die Groko verliert ihre Mehrheit
Die wichtigste Erkenntnis betrifft die beiden grössten Fraktionen: die Europäische Volkspartei (EPP), deren Weltanschauung etwa jener der Schweizer CVP entspricht,
und die Progressive Allianz der Sozialdemokraten (S&D), deren Mitglieder ähnliche Werte vertreten wie die Schweizer SP.
Sie werden wohl ihre gemeinsame Mehrheit im Europäischen Parlament erstmals verlieren. Derzeit vereinen die beiden Fraktionen knapp 55 Prozent der Sitze auf sich –
also mehr als die Hälfe. Gemäss den Voraussagen kommen sie im neuen Parlament zusammengezählt noch auf 44 Prozent der Sitze.

Volksparteien im Niedergang
Sitzanteile der Christdemokraten (EPP) und der Sozialdemokraten (S&D)

Die Wahlen von 2019 werden damit zur historischen Zäsur. Seit der ersten Wahl von 1979 beherrschen die beiden Fraktionen die Szenerie in Strasbourg: Erst waren die
Sozialdemokraten führend, dann die Christdemokraten. 1999 setzte es für die S&D jedoch eine hefige Wahlniederlage ab, von der sich die Partei letztlich nicht mehr
erholte. 2014 erlitt auch die Europäische Volkspartei eine Schlappe, die zuvor zur stärksten Kraft aufgestiegen war.
Damit geht die Ära der grossen Volksparteien auf europäischer Ebene zu Ende.
Gemeint ist nicht die Eigenbezeichnung dieser Parteien, sondern deren Funktion: Sowohl Christ- als auch Sozialdemokraten sind nach dem Zweiten Weltkrieg
entstanden. Im Wettbewerb um die Macht im Regierungs- und Oppositionssystem öffneten sie ihr weltanschauliches Fundament, um für neue Gesellschafsgruppen
wählbar zu werden. Beide bekennen sich zu der liberalen Demokratie, den Menschenrechten und dem pluralistischen Parteienwettbewerb und werden deshalb
als Volksparteien bezeichnet.
Die gemeinsame Mehrheit bedeutete, dass die Christ- und Sozialdemokraten notfalls im Alleingang den Lauf der Dinge bestimmen konnten␣– als eine Art grosse Koalition
des Zentrums, ähnlich wie sie in Deutschland existiert. Neu sind die Volksparteien auf Partner unter den kleineren Parteien angewiesen.

4. Neue Ideologien kommen auf

Die Erosion der Volksparteien hat mit der politischen Partizipation zu tun. Seit 1980 sinkt die Wahlbeteiligung in vielen europäischen Ländern kontinuierlich. Betroffen davon ist vor allem der Anhang grosser Parteien.
Andererseits konnten sich neue Parteitypen mit eigenständiger Ideologie etablieren. Europäisch gesehen sind das vor allem die Allianz der Liberalen und Demokraten
(ALDE), die ähnliche Positionen wie die FDP und GLP in der Schweiz vertritt, aber auch die Grünen/Europäische Freie Allianz, dem Äquivalent der Schweizer Grünen.
Sie wurden auf der EU-Ebene dauerhaft in die Regierungstätigkeit eingebunden, was zur Erosion der Volksparteien beitrug. Liberale und Grüne kommen heute
zusammengezählt auf 15,6 Prozent Sitzanteile. Künftig dürfe ihr Anteil auf 17,7 Prozent steigen.

Die zweite Garde
Sitzanteile der Liberalen (ALDE), Grünen (Grüne/EFA) und Linken (GUE/NGL)

Gemeinsam ist diesen Parteien, dass sie vom Individualisierungsschub der europäischen Gesellschafen profitieren. Dieser schwächte die Kirchen und
Gewerkschafen, die traditionellen Stützen der Christ- und Sozialdemokratie. Auffallend ist vor allem der Aufstieg der Grünen, die erst seit 1989 existieren.
Stagnierend ist dagegen der Trend bei der Fraktion der Vereinten Europäischen Linken/Nordische Grüne Linke (GUE/NGL), zu der etwa die deutsche
Linke, die griechische Syriza und die spanische Podemos zählen und deren Programm vergleichbar mit jenem der Schweizer PdA ist.

5. Der Rechtspopulismus erstarkt
Parallel zu den liberalen Werten, die sich in Europa ausbreiteten, setzte jedoch eine starke Gegenbewegung ein: der Populismus. Spätestens seit der globalen
Finanzmarktkrise von 2007/08 kam die autoritäre Politik wieder in Mode. Gefragt sind neuerdings Ruhe und Ordnung, traditionelle Werte, nationale Ausrichtungen.
Kosmopolitischen Eliten und internationalen Übereinkünfen wird der Kampf angesagt.
Erstarkt sind so populistische Strömungen, meist rechts, bisweilen aber auch links. Ihnen gemeinsam ist eine Distanzierung von der EU, sei es als nationalistische Gegner, als Skeptiker mit Hoffnung auf Volksentscheidungen oder als Reformer, namentlich
im konservativen Lager.
Stark in der Offensive ist die bisher extremste, aber auch bedeutungsloseste Fraktion rechts der EPP, die Allianz für ein Europa der Nationen und Freiheit (ENF). Sie besetzt das äussere rechte Feld nahe des Rechtsextremismus; für sie gibt es in der Schweiz keine wirkliche Vergleichspartei. Die Gruppe ist erst nach den Parlamentswahlen 2014 entstanden und litt bisher unter Konkurrenzkämpfen zwischen den nationalen
Abordnungen. Im neuen Parlament soll sie aus dem Stegreif auf über 8 Prozent kommen.
Unter Führung des italienischen Innenministers Matteo Salvini strebt die EFN eine Neuformierung an. Er will Marine Le Pen und ihr Rassemblement National als Leader
ablösen. Ein Namenswechsel in Europäische Allianz für Menschen und Nationen (EAPN) ist angesagt. Gestärkt werden soll die Fraktion durch die österreichische FPÖ,
die niederländische PVV, die bisher fast gar nicht im EU-Parlament vertretene Alternative für Deutschland und weitere rechtspopulistische Parteien aus Ost- und
Nordeuropa.

Euroskpetizismus im Aufwind
Sitzanteile der EU-Reformer (ECR), -skeptiker (EFDD) und -gegner (ENF)

Die Fraktion der Konservativen und Reformer (ECR), die schwergewichtig von den Tories und der polnischen PiS getragen wird und weltanschaulich ungefähr auf der
SVP-Mehrheitslinie politisiert, dürfe ihren Anteil bei etwa 9␣Prozent stabil halten. Stabil bei rund 6 Prozent dürfe auch die EU-skeptische Fraktion Europa der Freiheit und der direkten Demokratie (EFDD) bleiben, zu denen bisher die Ukip und die Cinque Stelle gehörten und die ihr Pendant in der Schweiz bei der Lega, beim Genfer MCG und auch bei Teilen der SVP findet.

6. Das grosse Ganze

Die aufstrebenden Rechtsparteien werden nicht nur das Parlament, sondern auch die Demokratie in den nächsten fünf Jahren auf die Probe stellen. Laut dem britischen Politologen Simon Hix ist unwahrscheinlich, dass es bei der Kommissionsbildung zu einem eigentlichen Kampf zwischen Links und Rechts kommt, mit alternierender Postenbesetzung, so wie dies etwa im zweigeteilten Parteiensystem der USA üblich ist. Nötig ist jedoch eine erneuerte Form der grossen Allianz – womöglich mit den Liberalen im Zentrum: Sie sind in der besten Position, die Königsmacher zu werden. Bei der Besetzung der Toppositionen in der EU dürfen die Liberalen darum eine entscheidende Rolle spielen. Ihr Gewicht hängt davon ab, ob sich Emmanuel Macron zum Mitmachen entscheidet. Noch liebäugelt er mit der Bildung einer eigenen, liberalen und pointiert proeuropäischen Fraktion.
Demokratiepolitisch entscheidend ist, was aus der rechtspopulistischen Fraktion wird. Denn unter französischer Führung diente ihr das EU-Parlament in erster Linie
als öffentliche Bühne, mit der die Schwäche im nationalen Parlament in Paris kompensiert wurde. Letztlich war die Fraktion damit im Europäischen Parlament nur
von untergeordneter Bedeutung.Unter der Führung der in Italien regierenden Lega könnte sich dies nach der Wahl ändern. Denkbar ist, dass sie in den Ausschüssen des Parlaments aktiv mitarbeiten wird – nicht um die EU als Ganzes anzugreifen, sondern um sie von innen im Sinne der Rechtspopulisten zu ändern. Nichts weniger als die Grundsätze der liberalen Demokratie, die Grundrechte und die pluralistische Demokratie selbst stünden dann vermehrt zur Debatte.