Ventil-Funktion von Abstimmung einmal anders betrachtet

Im Nachgang zur Volksabstimmung über die Personenfreizügigkeit habe ich eine Arbeitsthese, die ich gerne diskutieren würde: Volksabstimmungen haben eine Ventilfunktion. Sie bringen verdeckte Themen an die Oberfläche. Das ist bei Initiativen fast immer der Fall; es kann aber auch bei Referenden geschehen. Wenn deren Thematisierung für die Behörden eine Bedrohung ist, kann es sinnvoll sein, das Thema selber aufzugreifen und rechtzeitig vor der Abstimmung mit eigenen Argumenten zu besetzen.

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Man nehme das Beispiel Zürich. Der Kanton stimmte im Jahr 2000 den Bilateralen mit 69,9 Prozent zu. Personenfreizügigkeit war da kein Thema. Sodann stimmte er der erweiterten Personenfreizügigkeit 2005 mit 59,4 Prozent zu. Das Thema “Einwanderung” war lokal ein Thema, aber kaum im Zusammenhang mit einer spezifischen Nationalität. 2009 war die Einwanderung aus Deutschland ein grösseres gesellschaftlichen Thema im spezifisch zürcherischen Umfeld, doch zeigte es bei der Abstimmung keine Wirkung: Der Kanton sagte am Wochenende mit 61.9 Prozent Ja zur definitiven Personenfreizügigkeit.

Nun fragt man sich zu recht warum. Und genau da setzt meine Arbeitsthese ein:

Schlecht ist es, mit der Thematisierung vorhandener, aber verdeckter Themen zu warten, bis Abstimmungskampf ist. Denn dann kann es von der Gegnerschaft politisch instrumentalisiert werden, und es besteht die Gefahr, dass es dem Behördenstandpunkt schadet.

Gut ist es dagegen, wenn die Thematisierung klar vor dem Abstimmungskampf erfolgt, und zwar aus Sicht von Organisationen, die den Behördenstandpunkt teilen, die Instrumentalisierung des Themas durch die Opposition aber verhindern wollen.

Im aktuellen Fall könnte man sagen, war das Avenir Suisse. Die Organisation war klar für die Personenfreizügigkeit und sie griff mit der Buchpublikation “Die neue Zuwanderung” das gesellschaftlich vorhandene Thema (zum Beispiel Universitäten, Spitäler, etc.) selber auf, reicherte es mit Informationen zum Brain-Gain an und verhinderte damit die Besetzung der Problematik durch fremdenfeindlich ausgerichtete Akteure.

Zwar wurde die “Deutschen”-Frage in Zürich während des Abstimmungskampfes verhandelt. Doch gelang es der Gegnerschaft der Personenfreizügigkeit trotz Anstrengungen nicht wirklich, sie auf die politische Agenda zu setzen. Medial hatte es zwar eine gewisse Resonanz, doch wirkte sich diese auf das Stimmverhalten nicht aus.Die Gegnerschaft fühlte sich zwar bestärkt, die BefürworterInnen waren aber rechtzeitig mit Gegenstandpunkten informiert worden. Und die mediale Skandalisierung bliebt ganz aus.

Um es noch klarer zu sagen: Die Ventil-Funktion von Abstimmungen, die es Opponenten erleichtert, ihren Standpunkt zu rechtfertigen, kann kommunikativ neutralisiert werden. Die Lösung besteht darin, das Ventil ganz bewusst vor dem Abstimmungskampf zu öffnen, damit das Thema an Brisanz verloren hat, wenn es zur politischen Entscheidung kommt.

Q.E.D.

Claude Longchamp