Was ist aus dem gutschweizerischen Konsens geworden?

Blog für die Rubrik “Auf lange Sicht” im RepublikMagazin

Alle gegen einen – alle gegen die SVP. Wenn am 25. November über die Selbstbestimmungsinitiative abgestimmt wird, steht die Rechtspartei mit ihrer Ja-Parole allein auf weiter Flur. Alle anderen Parlamentsparteien lehnen die Vorlage ab, stehen in scharfem Dissens zur Politik der SVP.

Das allein ist wenig verwunderlich: Uneinigkeit hat schon immer zur Politik gehört. Relativ neu ist für die Schweiz jedoch, dass es in der demokratischen Ausmarchung systematisch zum Dissens kommt. Einigkeit unter allen Regierungsparteien in einer Sachfrage: Das ist immer mehr die Ausnahme.

Deutlich wird das, wenn man das Abstimmungsverhalten im Nationalrat über die letzten zwanzig Jahre betrachtet. Dort hat sich der Anteil der Entscheidungen, bei denen die Bundesratsparteien übereinstimmen, fast halbiert: von 20 Prozent zu Beginn des Jahrtausends auf noch gut 10 Prozent.

In der Theorie – und im Selbstbild – ist die Schweiz eine Konsensdemokratie. Seit dem 20. Jahrhundert folgen ihre Institutionen und die politische Kultur der Idee, dass man Probleme am besten im Dialog löst. Doch die Realität sieht zunehmend anders aus: Entscheide werden öfter im Konflikt gefällt.

Um diesen Trend zu verstehen, muss man drei Parlamentskonstellationen kennen, die im Schweizer Parlament auftreten:

Der grosse Konsens: Alle Regierungsparteien ziehen bei einem Entscheid am selben Strang.


Der flexibilisierte Konsens: Die Mitteparteien FDP und CVP gehen mit einer der beiden Polparteien SVP oder SP eine Verbindung ein.


Die polarisierte Mehrheitsbildung: Die SVP oder die SP finden je eine Mittepartei (also die CVP oder die FDP) als Partner und spalten so das politische Zentrum.

Der grosse Konsens steht modellhaft für die Konsensdemokratie. Und auch der flexibilisierte Konsens verträgt sich mit ihr, sofern sich nicht immer dieselbe Polpartei in der Minderheit befindet.

Das dritte Muster – die polarisierte Mehrheitsbildung – hat aber nicht mehr viel mit der Konsensdemokratie gemein. Es kommt zu knappen Mehrheiten, es droht Opposition aus allen Richtungen, die politische Mitte ist nicht mehr erkennbar, Misserfolge des Parlaments bei Volksabstimmungen häufen sich.

Welche Parteien zusammen paktieren

Der Rückblick auf die letzten sechs Legislaturen im Nationalrat zeigt: Der grosse Konsens unter allen Regierungsparteien ist zur Ausnahme geworden. Er tritt, wie die erste Grafik gezeigt hat, nur in rund 10 Prozent der Fälle auf.

Der Regelfall ist der flexibilisierte Konsens. Dabei stützen drei Fraktionen die Regierungsposition. Im 20. Jahrhundert blieb typischerweise die SP als Linkspartei aussen vor. Seit dem Jahr 2000 hat sich dies geändert: Die Blockbildung verläuft öfter auch gegen die SVP. Mittlerweile finden sich beide Parteien bei rund einem Drittel der Entscheide in der Opposition, wie man in der folgenden Grafik erkennt.

Setzt sich der Trend fort, könnte es in der nächsten Legislatur zu einer Ablösung kommen – und die SP wäre erstmals häufiger im überparteilichen Konsens vertreten als die SVP.

Polarisierte Mehrheitsbildungen, welche die Mitteparteien spalten, waren in den letzten zwanzig Jahren insgesamt selten. In letzter Zeit kam es allerdings zu einer leichten Zunahme: SVP und FDP koalieren häufiger gegen CVP und SP, wie zuletzt etwa bei den Kriterien zum Export von Kriegsmaterial. Etwas öfter gehen auch die SP und die FDP eine Verbindung gegen die CVP und die SVP ein.

Der Erfolg politischer Allianzen wird jedoch nicht an ihrer Häufigkeit gemessen, sondern an der Zahl gewonnener Abstimmungen.

Wer bei den Abstimmungen gewinnt

Und hier bleibt der bürgerliche Block aus CVP, FDP und SVP gegen die SP das Mass aller Dinge. Zwar ist dieser Block weniger erfolgreich als noch vor 2007, als die SVP vorübergehend in die Opposition ging. Doch die Allianz aus CVP, SVP und FDP ist auch heute immer noch die erfolgreichste Mehrheit im Nationalrat.

Sie gewinnt nach wie vor rund ein Drittel der Abstimmungen, wie sich in der folgenden Grafik zeigt.

Allerdings hat sich auch die Mitte-links-Allianz gegen die SVP in letzter Zeit öfter durchgesetzt. Der auffälligste Sprung erfolgte auch hier nach den Wahlen von 2007. In der nachfolgenden Legislatur gewannen Koalitionen aus CVP, FDP und SP ein Viertel aller Abstimmungen im Parlament. Auch dies lässt sich als Folge der vermehrten Opposition der SVP interpretieren.

Selbst die Rückkehr von zwei SVP-Vertretern in den Bundesrat vermochte den Trend nicht zu brechen. In der laufenden Legislatur, die bis zu den Wahlen im Herbst 2019 dauert, zeichnet sich gar ein neuer Höchstwert ab. Noch nie hat die SVP so oft gegen eine vereinte Allianz aus der SP, den Grünen, der CVP und der FDP verloren wie in den letzten drei Jahren.

Der kleine Schulterschluss der SVP mit der FDP steht bei den Erfolgsquoten an dritter Stelle. Neuerdings gewinnt er doppelt so oft wie jener zwischen SP und CVP. Grund dafür ist der Rechtsrutsch bei den letzten Wahlen. In der laufenden Legislatur sind die Erfolgschancen der Rechten stark gestiegen, während ausschliesslich linke Koalitionen so wenig Erfolg wie nie haben.

Von der Konsens- zur Konkurrenzdemokratie

Aus den diversen Zeitreihen zum Abstimmungsverhalten der Parteien im Nationalrat lassen sich insgesamt drei Trends ableiten:

Erstens: Koalitionen, die alle Regierungsparteien mit einschliessen, sind arg rückläufig – sie könnten sogar bald ganz verschwinden.


Zweitens: Es findet eine Verschiebung der Fronten statt: vom traditionellen Bürgerblock hin zu «alle gegen die SVP».


Drittens: Seit kurzem nehmen harte Polarisierungen stark zu, die das bürgerliche Zentrum entzweien.

Mittelfristig bewegt sich der Nationalrat damit in eine Richtung, die den Präferenzen der Wählerschaft teilweise widerspricht: Bei Themen wie der Europa- oder der Migrationspolitik kann die SVP nicht mehr in die Mehrheit eingebunden werden, obwohl sie die wählerstärkste Partei ist. Umgekehrt sind die FDP und die CVP auf die Unterstützung der SP und anderer Parteien angewiesen. Das schwächt insgesamt die bürgerliche Position im Nationalrat.

Parallel dazu hat sich in der laufenden Legislatur eine Allianz aus FDP und SVP gebildet. Sie verfolgt bei der Militärpolitik oder der Finanzpolitik einen stramm konservativen Kurs und ist in der Lage, sich bei diesen Themen durchzusetzen. Doch dieses hart kalkulierte Mehrheitsdenken ist riskant, denn die Öffentlichkeit ist schnell mobilisiert: Der Einspruch durch ein Referendum oder von Kantonen, Städten und Gemeinden folgt bei solchen polarisierten Blockentscheidungen meist auf dem Fuss.

Vergleicht man die Entwicklungen in der Schweiz mit jenen in den einst typischen Konsensdemokratien Europas, so fällt auf: Der Wandel ist weniger weit fortgeschritten als etwa in Dänemark und den Niederlanden. In beiden Ländern haben sich parlamentarische Demokratien mit Mehr- und Minderheiten und dem Verzicht auf Volksabstimmungen verfestigt.

Ausgeprägter als hierzulande sind die Veränderungen auch in Italien und Österreich, trotz Föderalismus im einen und einer direkten Demokratie im andern Fall. Vergleichbar ist die Schweiz am ehesten mit Deutschland, während Belgien eindeutig konsensdemokratischer strukturiert bleibt.

Länder, die in der Entwicklung hin zur Konkurrenzdemokratie weiter sind als die Schweiz, sind alle von Zentrumsregierungen oder vorübergehenden Mitte-links-Koalitionen zu Regierungen mit einem starken rechten Pol übergegangen – entweder mit einer parlamentarischen Mehrheit oder einer Minderheit. Wirklich stabil sind allerdings auch diese nicht. Genau das droht auch der Schweiz in der Übergangsphase, in der sie sich zusehends befindet.

Im generellen politischen Diskurs in der Schweiz hat der Dissens den Konsens längst abgelöst. Die Debatten um die Masseneinwanderungs- oder die Selbstbestimmungsinitiative zeigen dies. Im Parlament verzögert sich dieser Prozess, besonders im Ständerat aufgrund des dort geltenden Majorzwahlrechts. Eine eigentliche Konkurrenzdemokratie ist die Schweiz also noch nicht. Doch zumindest der Nationalrat hat dem Konsens bereits Adieu gesagt – notabene ohne zu wissen, was danach kommen soll.