Wählen als zweistufiger Meinungsbildungsprozess

Wir wirken Wahlkampagnen? Die einfachste Antwort ist, Umfragen im Wahlkampf würden entscheiden. Oder die gekaufte Werbung bestimme alles. Oder es lenke die Medienagenda, was aus der Wahlurne komme. Die neue Dissertation von Thoma De Rocchi relativiert. Sie hat auf der Mikro-Ebene untersucht, wie sich Wählende entscheiden und das in den Kontext von Wahlkampagnen gestellt. Und kommt zu unerwarteten Befunden und interessanten Schlüssen.

9783658208189

Die neue Dissertation
Thomas De Rocchi, heute Leiter Wahlen und Abstimmungen des Kantons St. Gallen, war Doktorand an der Universität Zürich resp. arbeitete am Wahlforschungsprojekt «Selects» mit.
Seine verschiedenen Bezüge nutzte der junge Politikwissenschaftler, um eine Dissertation zum Thema «Wie Kampagnen die Entscheidungen der Wähler beeinflussen» zu verfassen. Genauer ist der Untertitel des Buchs, der Kampagnen auf Medienberichte und Wahlumfragen einschränkt.
Ziel ist es, deren Wirkungspotenzial während eines Wahlkampfes zu schätzen. Empirische Grundlage bilden die Daten zu den Nationalratswahlen 2011: einerseits fortgesetzte Befragungen, um feine Veränderungen in der Meinungsbildung zu beobachten, anderseits eine Inhaltsanalyse eines Querschnitts an Massenmedien, um die Entwicklung des Wahlkampfes nachzuzeichnen. Das Neue liegt in der Kombination beider Instrumente.
Seit Kurzem liegt das 240seitige Werk, betreut von den Professoren Thomas Widmer (Univ. Zürich), Georg Lutz (Univ. Lausanne) und Marco Steenbergen (Univ. Zürich), vor.

Zentrale Befunde
Am Anfang stehen die Medienberichte zu Themen im Wahlkampf. Sie beschreiben, was Parteien nach der Wahl vorhaben. Wer meint, von hier an nehme die Untersuchung den vermuteten Verlauf, wird überrascht. Denn die Wahrnehmung der Probleme durch die Wählenden ist im Normalfall weitgehend unabhängig davon. Einzig bei starken Ereignissen mit viel Berichten in kurzer Zeit verschieben die Medienberichte das Gefüge der Bürgerschaft.
Selbst wenn Massenmedien dabei Parteien bevorzugen, bleibt die Wirkung im Schnitt gering. Nachweisbar ist sie nämlich nur beim vordringlichsten Thema und bei der am meisten hervorgehobenen Partei. Head-Effekte also!
Das relativiert die Wahrscheinlichkeit, dass publizierte Wahlumfragen eine Wahl entscheiden. Immerhin, Gewinn- resp. Verlusterwartungen der Parteien beeinflussen die Wahlabsichten, zeigt De Rocchi. Doch ist das nicht eine direkte Folge der Veröffentlichung von Wahlprognosen auf Umfragebasis. Bemerkenswert ist namentlich sein Nachweis, dass subjektive Eindrücke vor, während und nach Umfragen wirksamer als fachmännisch gemachte Wahlbefragungen.
Gleiches wiederholt sich bei der wahrgenommenen Parteienkompetenz. Sie wirkt sich auf die Wahlentscheidung aus, werden aber nicht entscheidend durch Befragungen geformt. Deren Effekte sind viel zu gering, zeigt der Autor, um die individuelle Wahl zu erklären.

Stärken und Schwäche der Erklärungen
Demoskopen können aufatmen, Medien auch! Direkte Einflüsse auf individueller Ebene sind die Ausnahme, nicht die Regel.
Dafür stehen Parteien vor einem grösseren Problem als bisher angenommen. Denn die Chancen stehen schlecht, dass eine von ihnen das Hauptthema der Medien bestimmt.
Für 2011 stimmt das sicher. Der Unfall im Kernkraftwerk von Fukushima löste das relevante Medienthema aus. Es war ein genuines Ereignis, keines, dass die Parteien vorfabriziert hatten.
Ob man das verallgemeinern kann, bleibt offen, da De Rocchi letztlich nur ein Fallbeispiel, die Wahlen 2007, zur Verfügung stand. Für 2007 sind Zweifel angebracht. Wie sonst nie, ging die SVP strategisch vor, bestimmte mit der “Ausschaffung krimineller Ausländer” und der Blocher-Wahl den Wahlkampf eindeutig. 2003 und 2015 nutzten Grüne und Rote resp. die SVP das jeweils aufkommende Thema (Klimawandel, europäische Migrationskrise), um auf der Welle zu surfen und zu gewinnen.
Unabhängig davon bleibt die Frage, wie Effekte der Kampagnen auf die auf die Parteientscheidungen entstehen, wenn Umfragen und Berichte der Medien nur ausnahmsweise wirksam sind. Wenn auch nicht explizit nachgewiesen ist es naheliegend, kantonale und lokale Wahlen beizuziehen. Ihre grössere Unmittelbarkeit prägt das Image als Sieger- oder Verliererpartei. Und die Aktivitäten, die im kleinen Raum auch ohne Medien sichtbar werden, formen die Kompetenzurteile.

Absage an die Demoskopiekritik
Im Schlusskapitel bilanziert De Rocchi, in der Schweiz seine grosse Medienereignisse viel zu selten und sie kämen viel zu wenig gebündelt vor, um Wahlen direkt zu beeinflussen. Wie anderen Forscherinnen und Forschern auch, sei es ihm nicht gelungen, «einen signifikanten Einfluss von Wahlumfragen auf die Wahlabsichten der Befragten nachzuweisen. (…) Der Effekt sei schlicht zu gering, als dass dadurch der Ausgang der Wahl in signifikanter Art und Weise hätte beeinflusst werden können».
Immer wieder diskutierten Forderungen nach Einschränkung von Wahlumfragen kurz vor der Wahl erteilt er eine deutliche Absage. Für «manipulative Wirkungen» von Vorwahlbefragungen gäbe es keine wissenschaftlich fundierten Hinweise. Alt-Nationalrat Christoph Mörgeli, der dies wiederkehrend unterstellt(e), bekommt eine Extralektion!

Campaign volatility als spannende Beobachtung
Es sei hier festgehalten: Vielleicht sind die Ergebnisse der beiden Hauptfragestellungen gar nicht das Filet der Dissertation. Spannend fand ich ein Nebengeleise zur Meinungsbildung, das sich erst im Verlaufe der Ausführungen unter dem Stichwort «campaign volatility» heraus kristallisierte.
Wahlentscheidungen sind nicht bei allen BürgerInnen konstant, vielmehr schwanken sie bei einem Teil der Wählenden. Vor allem bei jüngeren Menschen kommt dies verstärkt vor. Hauptursache dafür seien nicht die Kampagnen direkt, sondern die strategischen Absichten der Wählenden, schreibt De Rocchi. Entsprechend Wählende leitet der Wunsch, die eigene Stimme nicht zu verschenken. Das bevorteilt an sich grosse Parteien mit politischem Gewicht. Es nützt auch Parteien mit Gewinnaussichten. Vor allem hilft es Parteien in der Defensive, etwa wenn der Verlust eines Bundesratssitzes droht.
Hier nennt De Rocchi die Dinge beim Namen. 2011 habe genau das der BDP genützt, die vor der Herausforderung stand, den Sitz von Eveline Widmer-Schlumpf im Bundesrat zu verteidigen – und gewann! Man ist geneigt zu sagen, dass sich eine Wiederholung 2015 schon früh nicht abzeichnete und der BDP schadete.

Wählen als zweistufige Entscheidung
Wählen sieht De Rocchi als ein zweistufiges Entscheidungsverfahren. Auf ersten Stufe nehmen sich die Wählenden die Parteien vor, die bei ihrer Wahl überhaupt in Frage kommen. Das kommt bei Wählenden fast allen Parteien vor und wird «choice setting» genannt. In aller Regel folgt es der weltanschauliche Nähe von Parteien zur hauptsächlich bevorzugten. Negativ wirkt sich einzig aus, wenn eine Partei mit starken Verlusterwartungen zu kämpfen hat.
Erst danach findet die eigentliche Wahl statt. Bei der entscheide die Fähigkeit, sich in einem Thema zu profilieren aus. Verglichen würden nämlich die »issue handling competence» der aussortierten Parteien.

Mein Kommentar
Als Leiter des Wahlbarometers 2011 bin ich Mituntersuchter. Schon deshalb habe ich die Arbeit mit Interesse und Aufmerksamkeit gelesen. Im grossen Ganzen halte ich De Rocchi Ergebnisse und Folgerung für sehr plausibel. Einige kritische Anmerkungen seien mir dennoch erlaubt:
Die Vorgehensweise scheint mir zu stark am rational-choice-Ansatz ausgerichtet. Themenkompetenzen sind nur eine Entscheidungsgrösse. Personenimages sind eine andere. Hinzu kommen Grundhaltungen und Stimmungslagen. Sie werden mit der hier präsentierten Vorgehensweise nicht verfasst. Deshalb verspricht der Titel des Buches mehr, als eingelöst wird.
Kampagnen sind aus meiner Erfahrung heraus nicht nur auf Wechselwählende angelegt. Seit 2007 wird gerade in der Schweiz immer deutlicher, dass sie auf Mobilisierung des Potenzials ausgerichtet sind. Das funktioniert via vorherrschende Kampagnenklimata, bei denen Medien durchaus eine Rolle spielen.
Meinerseits habe in den letzten 15 Jahren mehrfach zu zeigen versucht, dass nicht Agenda-Setting, sondern climate-setting massgeblich ist. Dabei sind meine Beobachtungen durchaus mit denen De Rocchis vergleichbar. Denn climate-setting funktioniert in aller Regel nur mit dem Hauptthema und bevorteilt nur die dabei zentral positionierte Partei. De Rocchi begründet es nur anders.
Zustimmen kann ich auch dem Konzept der zweigeteilten Wahlentscheidung. Die Kommunikationswissenschaft lehrt das ja seit Jahrzehnten, die Politikwissenschaft entdeckt es erst. Bekannt ist, dass es nach der Vorentscheidung Wählermärkte gibt. Doch sind die Wahlentscheidungen nicht beliebig. In der Schweiz relevant sind die Ambivalenz zwischen SVP und FDP, zwischen SP, GLP und Grünen oder zwischen BDP und CVP. Dabei resultiert in der Schweiz kein zwingender Parteientscheid aufgrund von Sachkompetenz. Oft genug sind es am Schluss Personenentscheidungen, die dem bevorzugten Themen- und Positionsmix entsprechen.
Ich finde, die akademische Wahlforschung sollte 2019 genau da näher bestimmen können.

Claude Longchamp

Thomas De Rocchi
Wie Kampagnen die Entscheidung der Wähler beeinflussen. Zum kurzfristigen Wirkungspotenzial von Medienberichten und Wahlumfragen in der Schweiz.
Springer Verlag, Diss. Zürich, Wiesbaden 2018.