Verschärfte Unterschiede in der Wahlbeteiligung nach Bildungsschichten wegen Polarisierung

Poster sind das Kommunikationsmittel, mit denen die Studierenden des Instituts für Politikwissenschaft an der Universität Zürich in den letzten Tagen des Frühlingssemesters ihre empirische Vertiefungsarbeit im Bachelor-Studium einem interessierten Publikum zugänglich machen. Hier meine Erleuchtung des diesjährigen Besuchs.

Besonders in Erinnerung geblieben ist mir die Arbeit von Fabienne Jedelhauser. Ihr Interesse galt Beteiligung bei den Nationalratswahlen 2015 aufgrund der Polarisierung der Wählerschaften. Das wollte sie nicht nur mittels amtlicher Statistik wissen. Vielmehr fragte sie, wie sich bestimmte Menschen in verschiedenen Umfeldern verhalten, und nutzte dafür Umfragen zu den Wahlen 2015.

jedelhauser
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Bekannt ist, dass die Wahlbeteiligung seit 1995 steigt. Geläufig ist auch, dass parallel dazu die Polarisierung der Wählerschaften zugenommen hat. Neu ist der Nachweis, dass sie Polarisierung der Wählerschaft über die Zeit oder je nach Kanton Folgen hat, die es in sich haben.
Jedelhausers erstes Ergebnis: Die Wählerschaften ist in fast allen Kantonen am Steigen; sie ist allerdings unterschiedlich ausgeprägt. Gering ist sie namentlich im Kanton Wallis, stark in Kantonen wie Genf, Bern, Zürich und Schaffhausen.
Das zweite Resultat ist geradezu verblüffend, denn die Effekte polarisierter Parteiensysteme auf die Wahlteilnahme der BürgerInnen sind nicht einheitlich. So ist nicht nur die Chance, dass BürgerInnen mit hohem politischen Interesse stärker partizipieren, gegeben. Die Wahrscheinlichkeit nimmt noch zu, je polarisierter das Umfeld ist. Ganz anderes lauten die Ergebnisse bei BürgerInnen mit tiefem politischen Interesse. Ihre Teilnahmewahrscheinlichkeit verringert sich, wenn die Polarisierung höher wird.
Drittens: Da das politisches Interesse eng mit der schulischen Bildung zusammenhängt, überrascht es nicht mehr sonderlich, dass sich Gleiches auch hier findet: Polarisierung verschärft die Gegensätze der politischen Beteiligung gerade entlang der Bildungsschichten.

Konkret: Der Kanton Wallis zeigt bei der Wahlbeteiligung noch das «alte» Muster. Die CVP zentriert die mobilisierte Wählerschaft. Die Polarisierung bleibt beschränkt, dafür ist die soziale Durchmischung des Elektorats hoch. Das «neue» Muster findet man in den urbanen Kantonen wie Zürich, Genf oder Bern. Die Wahlbeteiligung ist lange gesunken, steigt nun aber wieder an, denn die Polarisierung nimmt zu. Das mobilisiert vor allem interessierte Menschen mit guter Schulbildung, während die anderen vermehrt der Wahl fernbleiben.
Parteipolitisch kann man das als Erklärungsansatz sehen, warum etwa die Wahlergebnisse der CVP von einer zunehmenden Polarisierung chronisch negativ betroffen sind. Polarisierung ist für breite Volksschichten abstossend. Fasziniert sind demgegenüber Wählerschaften der linkeren und rechteren Parteien. Genau das bringt sie vermehrt zum Wählen.
Einzig bei der SVP muss man einen anderen Effekt vermuten. Jedelhausers Arbeit spricht dies implizit an. Denn diese Partei verfolgt ein ganz anderes Mobilisierungskonzept. Mit ihrem Populismus, der sich gegen politische und gesellschaftliche Eliten wendet, bringt sich den Haupttrend selber zum Ausdruck. Propagieren wird der politische und kulturelle «backlash», angeführt vom unzufriedenen einfachen Mann. Die angehende Politologin formulierte das auf ihrem Poster diplomatisch: «Polarisierung hat auf die Beziehung zwischen der Zufriedenheit mit dem System und der Wahlteilnahme keinen signifikanten Einfluss.»

Ja, mir ist heute ein Licht aufgegangen! Man soll die Beteiligung an Wahlen nicht nur entlang des Interesses und der Bildung eines Bürgers, einer Bürgerin bestimmen. Man muss auch das Umfeld mit einbeziehen. Denn die bekannten Effekte zwischen Partizipation, Interesse und Schicht fallen unterschiedlich stark aus, je nachdem wie polarisiert die Wählerschaft insgesamt ist, Vermuten kann man zudem, dass die Polarisierung fast überall ungebrochen ist. Die Wahlbeteiligung höherer Bildungsschichten wird so weiter wahrscheinlicher und wohl nur durch populistische Gegenbewegung korrigiert werden.

Claude Longchamp