Theorie des Wählendenverhaltens in der Demokratie: die unterschätzte Dimension der Identität(en)

Die fünfte Vorlesung zur “Wahlforschung zwischen Theorie und Praxis” beschäftigen sich mit den Theorie des Wählerverhaltens. Da findet ein bemerkenswerter Wandel statt. Nicht Sachfragen, nicht Personen entscheiden allen, sondern die Konstituierung politischer und sozialer Identitäten.

Mehrere Theorien des Wählerverhaltens stammen aus der Mitte des 20. Jhs. Die bekannteste ist die Theorie der rationalen Entscheidung. Sie sagt: Wählende verhielten sich vernünftig, wenn sie die Partei unterstützen, die ihnen inhaltlich am nächsten stehe. Umgekehrt positionierten sich Parteien rational, wenn sie so Wahlen gewinnen können.
Heute zweifelt man an diesen Aussagen. Wahlen sind zentrifugal geworden. Es geht darum zu erklären, was an den Rändern des politischen Spektrums geschieht. Die neueste Publikation zur Wahlforschung hat sich von den rational Wählenden verabschiedet. Sie rückt die Identitäten der Wählenden ins Zentrum.

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Das hat der anderen Theorie aus der Mitte des 20. Jhs. neuen Auftrieb gegeben. Sie stammt aus der Psychologie und konzipierte die Wählenden als emotionale Wesen. Gewählt würden nicht einfach Programme, mindestens so entscheidend seien Personen, mit denen man sich identifizieren können. Gesteuert werde alles von der Parteibindung aus politischen Sozialisation, namentlich in der Familie.
Die Forschung ist nicht mehr so sicher, ob die Parteiidentifikationen stabil seien. Von Brüchen ist die Rede, vom Wechselwählen und der Wahlabstinenz auch. Das trifft die Parteien im Zentrum. An den Polen entstehen neue Parteibindungen, bestimmt durch charismatische Führungspersonen und oppositionelle Forderungen.

Medien verstärken die neue Polarisierung. Theorien zum Wahlverhalten in Mediengesellschaften sehen Wählende als Hybride, die schnell zwischen Informationsverarbeitung und Wutausbrüchen schwanken. Entscheidend sei der Medienkonsum. Dabei gehe es um den Kampf um Wahrheit. Zusehends bestimmend würde die nationale, religiöse oder sprachliche Identität.
Dieses neue Wählertheorem ist bisher mehr Programm als gesichertes Wissen. Spätestens seit dem Aufkommen der sozialen Medien gibt es dazu heftige Kontroversen – in der Öffentlichkeit wie auch in der Wahlforschung.

Claude Longchamp