Die Polarisierung der Parteiensysteme in der liberalen Demokratie

Meine vierte Vorlesung zu “Wahlforschung in Theorie und Praxis” handelt von den Parteiensystemen in der liberalen Demokratien. Zentrales Phänomen ist deren Polarisierung, was zu einer Erweiterung des politischen Spektrums führt.

Nach dem Zweiten Weltkrieg waren die meisten Parteien in Westeuropa Volksparteien. Sie sprachen Wählende aus mehreren Gesellschaftsschichten an.

Typisch waren Christdemokraten mit der Tradition als zentralem Wert, Liberaldemokraten mit der Freiheit und Sozialdemokraten mit der Soldarität. Alle bekannten sich zur sozialen Marktwirtschaft resp. zur liberalen Demokratie. Verhandelt wurde der Wohlfahrtsstaat, um ökonomische Konflikte zwischen links und rechts zu mindern.

Heute entfernen sich die meisten Parteiensysteme von diesem Muster. Der Krieg mit seinen Extremen Ideologien ist in Vergessenheit geraten. Die Polarisierung steigt. Volksparteien schwächeln. Die Zahl relevanter Parteien steigt – ihre ideologische Ausdifferenzierung auch. Statt vom moderaten Pluralismus ist vom polarisierten die Rede, denn neue Parteien entstehen in der Regel an den weltanschaulichen Polen.

Die heute grösste Herausforderung sind populistische Parteien, in Europa häufig im rechten Spektrum. Der Bezugspunkt dieser Anti-establishment-Parteien ist das Volk als Nation. Dieses müsse homogen bleiben und von einer national gesinnten Partei vertreten werden. Der Feind sitze in Brüssel, das Hauptproblem sei die Migration.

Ursachen dieser Veränderung sind Umbrüche in der postindustriellen Gesellschaft. Die Finanzmarktkrise 2007 war auch eine tiefe Vertrauenskrise. Danach geht es nicht primär um ökonomische Konflikte, sondern um kulturelle: Eliten, die profitieren, werden angeprangert, bzw. Gesellschaftliche Gruppen, die zu wenig angepasst sind, ausgegrenzt.

Die politologische Beurteilung von Populismus schwankt. Die einen diagnostizieren ausgehend von Problemlage ein generelles Politikversagen, das durch eine veränderte Position von Regierungen und Parlament aufgefangen werden könne. Sie raten zu Dialog mit und Integration von Oppositionsparteien. Andere sehen die liberale Demokratie bedroht, wenn populistische Parteien mitregieren. Denn die Unabhängigkeit der Medien, der Gerichte und weiteren demokratischen Institutionen werde sofort zum Thema.

Selbst in der EU ist heute von autoritären Demokratien die Rede. Man muss da nicht einmal bis nach Russland schauen.

Claude Longchamp

Claude Longchamp