Demokratiegeschichte ist Protestgeschichte.

978-3-0340-1384-0

Rezension von Rolf Graber: Demokratie und Revolten. Die Entstehung der direkten Demokratie in der Schweiz. Chronos Verlag, Zürich 2017.

In seinem neuesten Buch, „Demokratie und Revolten“ übertitelt, widerspricht Rolf Graber, Titularprofessor für Geschichte der Neuzeit unter besonderer Berücksichtigung der Schweizer Geschichte an der Universität Zürich, gängigen Erzählungen der hiesigen Demokratiegeschichte. Weder sei die direkte Demokratie der Schweiz in der Regenerationszeit des 19. Jahrhunderts entstanden, noch lasse sich sie unvermittelt aus den mittelalterlichen Landsgemeinden ableiten. Vielmehr sei die Demokratiegeschichte der Schweiz eine Geschichte des politischen und sozialen Protestes, die in der “Sattelzeit” (R. Koselleck), hierzulande von der Spätaufklärung (um 1760) bis zur Etablierung der zweiten Verfassung des jungen Bundesstaates (1874), ihren Anfang habe.
Grabers These, im Schlusswort nachgerecht, ist unmissverständlich: „Die Untersuchungen haben gezeigt, dass die Forderungen nach mehr Partizipation immer auch an soziale und materielle Anliegen gekoppelt sind, die von der Hoffnung auf eine menschenwürdige Existenz befeuert werden und eine beträchtliche Dynamik entfalten. In diesem Sinne sind die Demokratiebewegungen eine Antwort auf gesellschaftlichen Entwicklungen und den liberal-kapitalistischen Modernisierungsprozess. Die Verlierer und Verliererinnen in diesem Modernisierungsprozess suchen einen sozialverträglicheren Weg in die Moderne.“
Das Material hierfür gliedert sich in vier Schwerpunkte: den Politisierungsprozess vor und nach der französischen Revolution (1762-1813), die Bewegungen während der Restauration (1815-1830), die Regeneration mit der Modernisierung der Landsgemeinden, aber auch dem Widerstand gegen die liberalen und konservativen Regierungen (1830-1848) sowie die demokratische Bewegung (1861-1896). Entwickelt werden so die Stufen der Institutionalisierung direkter Demokratie in der Schweiz. Zunächst geht es bloss um innere Dynamisierungen bestehender Zustände wie dem klassischen Republikanismus, den Gemeindefreiheiten, den Landsgemeinden, der überlieferten Geschlechterverhältnissen und den eingeschränkten Gleichheitspostulaten. Hinzu kommen jakobinische Impulse aus dem revolutionären Frankreich.
Doch dann passiert es in St. Gallen. Denn es kommt 1831 aus dem dramatischen Disput zwischen liberalen Anhängern der repräsentativen Demokratie und versammlungsdemokratischen Forderungen zum ersten Veto, der ersten direktdemokratischen Institution. Typischerweise sind die Rebellierenden enttäuscht, keine Volksherrschaft erreicht zu haben, übersehen dabei aber, dass sie das erste Muster der Volksbeteiligung mit Nachahmungseffekten etabliert hatten. Das Referendum, wie man es heute als gängigstes Volksrechte kennt, wird nicht in der für frühdemokratische Revolten quirligen deutschsprachigen Schweiz entwickelt, sondern 1845 erstmals in der Waadt eingeführt. Von da aus machen sie während. 1874 findet das fakultative Referendum Einzug in die Bundesverfassung, um 1891 um die Teilrevisionsinitiative erweitert.
Systematischen Wert hat das Kapitel zur „Demokratiegeschichte als Protestgeschichte“. Denn da wird das weit ausgebreitete Material einer synthetischen Analyse unterzogen: Zuerst geht es um Organisationsformen der direktdemokratischen Revolten. Grundlegend sind der legale Protest des Bittens und Begehrens von Untertanen aus der frühen Neuzeit. Hinzu kommen vorhelvetische Versammlungsformen mit der Landsgemeinde als Vorbild sowie gut verankerte volkskulturelle Protestformen mit hohem Symbolgehalt, meist in Form von Gewaltandrohung. Schliesslich werden auch neue Geselligkeitsformen des 18. Jahrhunderts, die in aufgeklärten Sozietäten entwickelt worden waren, zu den Anfängen der direkten Demokratie gezählt. Träger des Protest sind die ländliche Bevölkerung aus der Mittel- und Unterschicht. Angeführt werden sind von meist charismatischen Persönlichkeiten mit Nähe zur Bevölkerung, allen vor allen markanten Gastwirten. Deren Vorstellungswelten seien nicht irrational gewesen, wie die damaligen Eliten und ihre Nachfolger kritisierten, wendet der Autor ein. Vielmehr folgten sie einer grundlegenden Logik: sozialer Fortschritt durch politische Partizipation! Legitimiert wurde dies nicht selten durch den Rückgriff auf traditionsreiche Figuren der Schweizer Geschichte, allen voran Wilhelm Tell.
Direkte Demokratie ist demnach weder in den Anfängen der Eidgenossenschaft begründet worden, noch eine Spezialität der hiesigen Liberalen. Es ist die Folge von vielgesichtigen Rebellionen gegen die Etablierten, die jedoch nicht im populistischen Protest endeten, wie man aus heutiger Sicht meinen könnte. Denn ihre Besonderheit besteht darin, Institutionen der Volksbeteiligung an der Demokratie via Wahlen hinaus entwickelt zu haben.
Grabers Leistung wiederum ist es, die politkulturelle Eigentümlichkeit der schweizerischen direkten Demokratie herauszuarbeiten. Dabei widersteht er dem Versuch, sie zu einem einzigartigen Vorbild für andere zu stilisieren. Vielmehr bezeichnet er sie als unvollkommen. Denn die Inklusion gesellschaftlich randständiger Gruppen bedurfte stets internationaler Impulse. Die Frauen blieben lange ganz aus dem demokratischen Geschehen ausgeschlossen. Und äussere Bedrohungen wie der Zweite Weltkrieg führten via Dringlichkeitsrecht und Notrechtsregimes zu jähen Unterbrüchen der direkten Demokratie.
Was der Autor uns erzählt, ist ein farbenreiches Kaleidoskop aus Jugendrevolten, Zunftkonflikten, Utopien freier (Lands)Gemeinden, rebellierenden Fischweibern, Prügelmännern und Sackpatrioten, über die frühe demokratische Diskurse entstehen, zu oft als Pöbelherrschaft und Ochlokratie diskreditiert. Es ist aber auch eine Skizze der Genese von erfolgreichen und gescheiterten demokratischen Institutionen, die ihren lokalen oder kantonalen Kontext nur schwerlich überwinden konnten. Und es ist der Hinweis, dass internationale Verbindungen wie die des Waadtländer freisinnigen Staatsmannes Henry Druey zum Durchbruch der Volksrechte führten.
Das neue Geschichtsbuch hat denn auch eine spürbare Mission, die den Historiker aus Kreuzlingen als Interpreten von Jürgen Habermas erkenntlich macht: Die vielfältigen Widerstände zur Modernisierung seien Ausdruck des Spannungsverhältnisses von System und Lebenswelt, enthielten gleichsam eine Antwort auf die „Kolonisierung von Lebenswelt“ und die Zerstörungen traditioneller Existenzformen durch den wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und politischen Modernisierung. „Diese Gegenentwürfe sind … Wegbereiter einer anderen Moderne, indem sie nach einem „weniger rücksichtslosen Weg in die Moderne“ suchen.
Oder noch deutlicher: Als permanenter Kampf um Anerkennung sei das Vorhaben „direkte Demokratie“ immer „ein unvollendetes Projekt, das über nationalstaatliche Ausprägungen hinausweist. Indem es an soziale Gerechtigkeit gekoppelt ist, verweist es auf den universalistischen Geltungsanspruch der Würde des Menschen als realistische Utopie einer gerechten Gesellschaft. Möglicherweise sind die Spuren der Demokratiegeschichte zugleich Pfade nach Utopia.“

Claude Longchamp