Politische Entscheidfindung in der Schweiz neu eingeschätzt.

Es ist ein verkanntes Standardwerk der politikwissenschaftlichen Analyse des politischen Systems der Schweiz. Dennoch bleibt die Rezeption weit unter den Erwartungen. Nicht zuletzt wegen der englischen Sprache, in der es erschienen ist.

Es kommt selten genug vor, dass PolitikerInnen mich auf eine Neuerscheinung aus der politikwissenschaftlichen Grundlagenforschung angesprechen. Beim Buch “Political decision-making in Switzerland. The consensus model under pressure” war es gleich mehrfach so. Der eine Teil der Nachfragen ergab sich aus Interesse an der Sache, der andere aus dem Erstaunen, dass ein solch wichtiges Werk ausschliesslich in englischer Sprache erscheint.

sciarini

Die Rezension von Silja Häusermann
In der jüngsten Ausgabe der “Schweizerischen Zeitschrift für Politikwissenschaft”, pardon, der “Swiss Political Science Review”, bespricht Silja Häusermann das neue Buch von Pascal Sciarini, Manuel Fischer und Denise Traber ausführlich und gekonnt. Einem grossen Trend in der forschenden Politikwissenschaft folgend, ist selbst die Rezension auf englisch. Das ist und bleibt eine hohe Hürde bei der Popularisierung von Forschungswissen, weshalb ich hier einige zentrale Aussagen zusammenfasse und die aus meiner Warte kommentiere.

Vier Eigenschaften kennzeichnen die neue Sicht auf Entscheidungsstrukturen gemäss der Spezialistin für Schweizer Politik an der Universität Zürich: Erstens, der Mut der Forscher aus Genf, ihre Argumente aus der Sicht der Makro-Perspektive zu präsentieren, selbst wenn sie grösstenteils aus Interviews mit Akteuren stammen; zweitens, das nicht-institutionelle Verständnis von Macht, das sich nicht aus besetzten Positionen, sondern aus Akteursbeziehungen ableitet; drittens, die Wiederholung und Ausweitung bestehender Studien, was erstmals die Abschätzung zeitliche Entwicklungen ermöglicht; und viertens, einige Schlussfolgerungen zur Bedeutung der Forschungsergebnisse für die politische Praxis.

Die in der Studie verwerteten Interviews reflektieren 11 zentrale Entscheidungen der Schweizer Politik im beginnenden 21. Jahrhundert. Ermittelt wurden diese aufgrund von 80 ExpertInnen-Interviews, die damals nahe, wenn auch nicht direkt im politischen Prozess postiert waren. Analysiert wurden die Entscheidungen aufgrund von 320 weiteren Interviews mit Insidern politischer Akteure, die an den Entscheidungen beteiligt waren. Einzelergebnisse aus dem Forschungsprojekt, wie etwas die herausragende die Dissertation von Manuel Fischer, habe ich hier auch schon besprochen; andere Resultate sind in Fachzeitschriften und Magazinen bereits mehrfach diskutiert worden. Dazu zählen die Hinweise auf den Rückgang des Korporatismus, der Aufstieg neuer Bruchlinien rund um kulturellen Liberalismus und globale Offenheit oder die Polarisierung des Parteiensystems.

Häusermann identifiziert mehrere Beiträge aus der neuen Gesamtsicht auf die Entscheidungsprozesse in der Schweizer Politik:

Zunächst das Muster der Entscheidungsfindung: Den Forschern erscheint die Entscheidfindung unverändert offen und einbindend, dennoch ist sie konfliktreicher geworden. Hauptgrund ist, dass sich ein neues, nationalkonservatives Akteursnetz rund um die SVP gebildet hat. Damit verbunden, hat sich sind die effektive Entscheidungen vom vorparlamentarischen Prozess in die vorberatenden Kommissionen des Parlaments verlagert worden. Dort dominieren nicht mehr FDP und CVP, sondern die Polparteien rechts und links. Als Folge des Machtverlustes im Zentrum haben Verbände insbesondere in der Innenpolitik an Bedeutung verloren, die Kantone sind in Fragen des Föderalismus zu relevanten Playern aufgestiegen und die Verwaltung ist in der Verlinkung der Europapolitik entscheidend geworden.

Sodann die Machtbeziehungen: Wer im inneren Kreis der Machtbeziehungen geblieben ist, zeigt sich, wenig erstaunlich, deutlich zufriedener mit den ausgehandelten Ergebnissen. Das gilt vor allem für die Wirtschaftsverbände. Auf der anderen Seite stehen namentlich die Gewerkschaften, die ihre ganz zentrale Stellung im Machtgeflecht eingebüsst haben. Indes, die Studie zeigt auf, dass nicht nur Polarisierung Zufriedenheit und Unzufriedenheit erzeugt. Denn gerade dann, wenn es viele Gewinner gibt, ist auch die Zufriedenheit hoch. Das bedeutet auch, dass die Konsenssuche und -findung von Vorteil für die Beteiligten ist und bleibt, selbst wenn sie seltener vorkommen.

Ferner die Europäisierung und Medialisierung: Beide Prozesse sind zeitliche Begleiter und sachliche Beschleuniger der Veränderungen. Das gilt namentlich in der Kombination beider Trends, denn gerade die Europafrage ist keine “ruhige Politik” mehr, sondern hochgradig zur “lauten Angelegenheit” mit vielen Stimmen geworden. Oeffentlichkeit herzustellen, bleibt nicht neutral. Denn die Frage der Positionierung selbst in Einzelfragen gewinnt auf diesem Weg an Wichtigkeit.

Schliesslich der Zeitvergleich: Die diachrone Darstellung zeigt, dass der Aufstieg des nationalkonservativen Netzwerkes die Parlamentsarbeiten nicht durchschlagend verändert hat. Hauptgrund ist, dass die SVP in zahlreichen Fällen in Opposition hierzu bliebt. Verschwunden sind allerdings breite Allianzen, dominierend sind minimale Koalitionen. Der Preis hierfür ist die steigende Unsicherheit von Entscheidungen, nicht zuletzt durch vermehrt riskierte Referenden.

Mir haben die Arbeiten von Sciarini und Gefährten schon mehrfach geholfen, meine Beobachtungen zur Veränderung von Entscheidungsprozessen zu systematisieren. So 2014 gerade nach dem Ja zur Masseneinwanderungsinitiative, als ich etwa vor dem Club politique über den Relevanzverlust der Verbände referierte und Verwaltung und Massenmedien als neue Treiber gerade der Europa-Politik vorstellte. Oder 2015, als ich vor den versammelten Regierungsräten der 26 Kantone sprach und es um den Aufstieg der SVP ging, der sich via eidgenössische Abstimmungen zeigte, nationale Wahlen thematisch dominierte, namentlich in Kantonsregierungen aber nie die gleiche Bedeutung erlangte. Und so auch 2016 in meinen Kursen für Verbände, nicht zuletzt, um die gestiegene Bedeutung der Parlamentsarbeit mit ihren ständigen Kommissionen als eigentlichen Ort der neuen Entscheidfindung zu illustrieren.

Mein Aufruf
Es wäre wünschenswert, wenn es ein Buch wie dieses minimal in einer deutsch- und französischsprachigen Kurzfassung gäbe. Vorteilhaft wäre zudem eine Aufdatierung der Grundlagen, die vor der globalen Finanzmarktkrise und ihren Folgen erhoben wurden. Denn mit ihr hat sich, so meine Einschätzung, die Praxis der Entscheidungsverfahren in der Schweiz nochmals verändert: Ökonomische Überlegungen bleiben zwar wichtig, sind aber definitiv nicht mehr ausschliesslich bestimmend. Denn die sozialen Konsequenzen oder die Folgen der Globalisierung etwa für die Demokratie haben bei zahlreichen Akteuren klar an Bedeutung gewonnen, sodass sich die ehemalige Vorherrschaft der Wirtschaftsakteure gleich nochmals verringert hat, sei dies im Parlament oder in den Medien. Und diese sind nicht mehr einfach Kanäle, die politische Botschaften top-down transportieren, sondern mutieren in ihrer ganzen Buntscheckigkeit zu eigentlichen Akteuren.
Für eine popularisierte Neufassung des Buches gibt es gute Gründe: In der Praxis begegnet man immer wieder BürgerInnen, ja Akteuren, die fernab politologischer Erkenntnisse Einfluss nehmen wollen und angesichts der Professionalisierung der Politik scheitern. Wer diese Stufe überwunden hat, ist oft noch stark von den grundlegenden Arbeiten von Hanspeter Kriesi geprägt, der die hohe Bedeutung der vorparlamentarischen Phase mit der breiten Konsenssuche durch einige Generalisten und viele Spezialisten betont hatte. Der Alltag in Bundesbern ist demgegenüber mächtig vielschichtiger, kompetitiver und überraschender geworden. Ein neues Standardwerk zu “Politische Entscheidungsfindung in der Schweiz” könnte dabei helfen, die Übersicht zu einem System im Wandel nicht zu verlieren.

Claude Longchamp