Zentrifugale Demokratie

Was hat die Schweiz für eine politisches System, fragte ich heute meine Studierenden an der Universität Zürich. Hier die Antwort, die etwas mehr als einen Satz braucht. Am ehesten gleicht unsere System, wie es heue funktioniert, einer Zentrifuge.

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Bundesrat und Politikwissenschafter: Alain Berset

Auf der kantonalen Ebene gleichen die Institutionen eher dem Präsidialsystem. Die Regierung hat eine vom Parlament unabhängige Legitimation. Auf der Bundesebene sind wir dem parlamentarischen System näher. Denn der Bundesrat wird von der Vereinigten Bundesversammlung bestimmt. Jedoch, es fehlt so oder so an zentralen Elementen, die eine eindeutige Zuordnung zulassen würden: So gibt es auf Bundesebene kein Misstrauensvotum, einem wichtigen Kennzeichen des parlamentarischen Regierungssystems. Und auf Kantonsebene sind wir speziell, weil wir nicht bloss einen Präsidenten wählen, sondern ein ganzes Regierungskollektiv, das wir in seiner Zusammensetzung erst noch selber bestücken.
Parlamentsabhängige Exekutivgewalt ist denn auch eine der typischen Antworten, die Staatsrechtlern und Politikwissenschaftern geben, um das politische System der Schweiz zu kennzeichnen. Erklären kann man sich das nur historisch.
Eindeutig sind bloss die beiden Prinzipien, welche den Schweizer Regierungen eigen sind: das Kollegial- und das Departementalprinzip. Umschrieben werden damit, dass die wichtigen Entscheidungen von der Regierung gemeinsam getroffen werden, während die einzelnen Regierungsmitgliedern in ihren Departementen Entscheidungsfreiheiten geniessen. Ersteres kommuniziert man geschlossen nach aussen, für letzteres ist jedes Mitglied selber zuständig.

Es macht Sinn, das politische System der Schweiz als föderalistisch, republikanisch und demokratisch zu umreissen. Denn typische Elemente der Republik, so das Gemeinwesen, das sich souverän definiert und Behörden auf Zeit bestimmt, sind in der Schweiz gewährleistet. Die Demokratisierung eben dieser Behörden ist weit vorangeschritten, vor allem der beiden Parlamentskammern, die heute von Volk gewählt werden. Auch die Möglichkeit von Volksentscheidungen ist Ausdruck eben dieser Demokratisierung. Der Föderalismus erklärt sich von selber. Der Staatsaufbau ist überall ausgesprochen mehrstufig.
Man ist heute zudem bestrebt, die Schweiz auch hinsichtlich des Demokratietyps zu klassieren. Unterschieden wird dabei zwischen Wettbewerbs- und Konsensdemokratien. Wir sind zweifelsfrei Letzterem näher. Wir sind aber auch nicht mehr der Spezialfall, wie man es vor Kurzem noch meinte. Diese Kennzeichnung abstrahierte stets von der Möglichkeit der direkten Demokratie, die in einem beträchtlichen Masse jenseits der Konsensbildung funktioniert. Aber auch kantonale Wahlen sind heute wettbewerbsorientierter denn je, und die Entscheidungsfindung selbst in Kernfragen basiert vermehrt auf dem Prinzip der Allianzbildung unterhalb des grossen Konsenses. Angestrebt werden wechselnde minimale Koalitionen, die fallweise geändert werden können.

Zentrifugale Demokratie nennt Bundesrat Alain Berset das politische System der Schweiz. Gemeint ist, dass heute nicht mehr die Kräfte vorherrschend sind, die eine Sammlung in der Mitte befördern, sondern jene, die polarisierend wirken. Das gilt für Parteien wie auch für Massenmedien. Das alles hat seine Gründe, zum Beispiel die multipolaren Konfliktlinien, von denen nur die ökonomische recht erfolgreich vermittelt wird, die kulturelle dafür zu regelmässig grossem Streit führt. Damit verbunden ist eine Renationalisierung der Politik, die sich vermehrt in konfliktreicher Abgrenzung zur Staatsgemeinschaft definieren will. Dazu gehört auch eine Reparlamentarisierung der Entscheidungsfindung, indem das Parlament sein Programm vermehrt unabhängig von der Regierung festlegt. Die Schweizer Politik der jüngsten Zeit wird zudem durch exemplarische Mobilisierungen und Medialisierung bestimmter Sachfragen bestimmt. Das bleibt nicht ohne Folge: Denn die Medien lechzen nach personalisierter Politik und nach polarisierten Positionen.
Für das Konsenssuche zwischen politischen Akteuren ist das alles Gift. Deshalb sind wir heute eine vergiftete Konsensdemokratie: ein politisches System mit konkordanten Strukturen, aber überwiegend Wettbewerb im Verhalten der zentralen Akteure. Der Musterfall der Konsensdemokratie, wie er bis in die 80er Jahre des 20. Jahrhunderts bestand, ist angesichts anhaltender Polarisierungen ausgehölt.

Claude Longchamp