Wahlen im Zeitalter des populistischen Machtanspruchs

Heute begann meine Bachelor-Vorlesung zur Wahlforschung an der Uni Zürich. Hier einige Gedanken, die ich meiner Einleitung von heute zugrunde gelegt habe resp. die ich im Verlaufe des Semesters vertieft begründen möchte.

trumps

Vorneweg die Fakten: Donald J. Trump ist nach US-amerikanischem Wahlrecht zum Präsidenten für die Jahre 2017-2020 gewählt worden. Die Stimmen der Elektoren sprachen eindeutig für ihn, auch wenn eine direkte Volkswahl wohl anders ausgesehen hätte. Trump kann sich auf eine Mehrheit in beiden Parlamentskammern stützen, und er kann seinen Einfluss auf die höchsten Gerichte mit der Zeit erhöhen. Sein bisher grösstes Problem sind die Medien, namentlich die liberale Presse, die klar gegen ihn eingestellt ist. Problematisch ist auch sein Rückhalt in der tief gespaltenen Gesellschaft, die sich gegen ihn aktiviert.

Die richtige Analyse der US-Wahl 2016 ist noch nicht geschrieben. Vielfach vermutete Annahmen waren der erfolgreiche populistische Appel in seinem unüblichen Wahlkampf, die Symbiose von Marktmedien und tabubrechenden Politikern, der überraschende Durchbruch des Aussenseiters bei den primaries der Republikaner, der Frust der Industriearbeiter über den Niedergang ihrer Branchen und die Angriffsflächen, die beide BewerberInnen boten.
Weitgehend unbestritten blieben die Ergebnisse der Exit-Polls am Wahltag. Sie legen nahe, dass sich die Wählerschaften der beiden KandidatInnen hinsichtlich der stets wirksamen Parteiidentifikationen (Republikaner vs. Demokraten), der sich widersprechenden Weltanschauung (Konservatismus vs. Liberalismus) und der zentralen Streitthemen (vor allem dem Mauerbau zu Mexico) nach geschlagenem Wahlkampf klar unterschieden. Hinzu kamen gegensätzliche Bewertungen der Regierung Obama, diametral andere Diagnosen zur gewünschten politischen Richtung zwischen Internationalismus und Nationalismus resp. zwischen Freihandel und Protektionismus. Die Haushalte lasen dies aufgrund ihrer realen oder erwarteten Finanzlage je nach Schicht verschieden.
2016 die von Obama 2008 geformte Wählerkoalition aus demokratischen KernwählerInnen, aber auch ethnischen Minderheiten teils zerfallen. Je höher die Arbeitsplatzverluste in einer Gegend waren, desto stärker orientierte man sich selbst in traditionell demokratischen Wahlkreisen neu. Viel zitiert wurde dabei der rust-belt mit der serbelnden Automobilindustrie, wo sich namentlich die weissen Arbeiter den Republikanern zuwandten. Da ging es aus Wählersicht nicht um Nutzenmaximierung, wohl aber um Schadensbegrenzung. Genau das haben die akademisch gebildeten Oberschichten in den liberalen Städten übersehen, weil sie vom Auftritt des republikanischen Präsidentschaftskandidaten zunehmen angewidert waren und sich mehr denn je neu orientiert haben.

Bis jetzt sind mir zwei mehrschichtige Analysen der Wahl aufgefallen. Die erste stammt von Allan Lichtman, dem Historiker, der seit 1984 alle Präsidentschaftswahlen richtig prognostiziert hat. Aus seinen 13 Schlüsseln zum Weg ins Weisse Haus kann man die Erfolgsstory bei den letzten US-amerikanischen Wahlen so ableiten: Da sind einmal die beiden Kandidatinnen, Trump der tollpatschige Charismatiker, der die Aufmerksamkeit auf sich zog, und Clinton, die kompetente Frau, die zu lange in Washington war und abgegriffen wirkte. Da geht es um die Amtsdauer der Herrschaft der Demokraten, die mit 8 Jahren Obama-Regierung an ihre eigene Grenze stiess. Da fehlte vor allem der grosse Wurf in der zweiten Legislatur, der die regierende Partei neu erfunden hätten. Da waren die verlorenen mid-terms zwei Jahre zuvor, bei denen die Zeichen auf Wechsel gestellt worden waren. Lichtman analysierte das Ergebnis auch aussenpolitisch, wobei der für die USA so wichtige Erfolg fehlte, ja die Obama-Regierung im nahen Osten eine eigentliche Niederlage erlitt. Jeder dieser Gründe hätte für sich genommen nicht gereicht, meint der Historiker; die Gesamtheit der genannten Ursachen seien aber ausreichend genug, um den Sieg von Trump zu begründen. Der einzige, der Trump hätte verhindern können, sei Trump selber, meinte Lichtman kurz vor der Wahl. Nach der Wahl sagte er, es sei gut möglich, dass er in ein Amtsenthebungsverfahren laufe. Man solle sich schon mal ausführlich mit Pence beschäftigen, dem möglicherweise nächsten US-Präsidenten.
Die für mich inspirierendste Einbettung von alledem stammt von keinem Sozialwissenschafter, sondern von einem Physiker. Zu seinem 75. Geburtstag warnte Stephen Hawking anfangs 2017, am gefährlichsten Zeitpunkt der Menschheitsgeschichte angekommen zu sein. Das mag etwas übertrieben wirken; seine Argumente sind aber bedenkenswert klar: Hawking deutet den Sieg der Populisten als Aufschrei der Wut derjenigen, die sich von ihren Politikern im Stich gelassen fühlten. Denn Jobverlust und Dequalifizierung seien keine Erfindungen ungeliebter Regierungskritiker, sondern Realitäten, die sich in vernichteten Produktionsbetrieben resp. bedrohten Arbeitsplätzen der Mittelschichten manifestierten. Der Fortschritt lasse sich nicht vermeiden, so Hawking, doch bringe er anders als früher nicht Wohlstand für alle, sondern vermehre er Ungerechtigkeiten. Namentlich das Internet und soziale Medien würden das unzensuriert zeigen. Das führe zwangsläufig zu Migration, getrieben durch Hoffnung auf Verbesserung, in einem Land hin zu zunehmend überforderten Städten, zwischen den Staaten von Armen zu Reichen. Deren Bevölkerungen seien bedroht, was ohne Umverteilung von Ressourcen nicht bekämpft werden könne.

Genau solches sollte unter PolitikwissenschafterInnen nicht vergessen gehen, wenn sich die Wahlforschung mit ihren Kernfragen beschäftigt, nämlich «Wer wen warum mit welcher Wirkung wählt» resp. wie sich politische Systeme neu aufstellen müssen, wenn Ursachen von Wahlergebnissen nicht missverstanden und die Folgen nicht falsch gedeutet werden sollen.
Genau da habe ich eine Vermutung: Die Wahlforschung braucht nicht mehr methodische Raffinesse; sie braucht wieder mehr Analyse von Zusammenhängen, die in Zeiten der Veränderung wirksam sind.

Claude Longchamp