Warum twittert eine Minderheit der NationalrätInnen nicht?

Rund 60 Prozent der 2015 gewählten Volksvertreter auf Bundesebene sind auf Twitter. Wer twittert, dem gehört die mediale Aufmerksamkeit, sagt man. Doch warum verweigert sich eine Minderheit dieser Chance?

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Ladina Triarca und Barbara Wilhelmi bei der Präsentation der Forschungsarbeit. Nicht auf dem Bild: Jessica Zuber.

Eine Gruppe Studentinnen meines Forschungsseminars zur “Digitalen Revolution der politischen Kommunikation” beschäftigte sich im vergangenen Semester ausführlich mit den Twitter-VerweigerInnen unter den VolksvertreterInnen. Zwei Analyseschritte führten die MasterstudentInnen zu ihren Erkenntnissen: Erstens verglichen sie das Profil der NutzerInnen und Nicht-Nutzerinnen; zweitens befragten sie eine typologische Stichprobe der Nicht-NutzerInnen nach ihren Motiven.

Geschlecht, Alter und Siedlungsart beschreiben die Wahrscheinlichkeit, dass gewählte VolksvertreterInnen auf Twitter sind. Bei Frauen, bei Jungen und bei urbanen PolitikerInnen sind die Chancen erhöht. Vertreter des Landes, der Rentner und Männer haben dagegen eine deutlich geringere Wahrscheinlichkeit.
Wer Twitter nicht nutzt, nennt fehlende Zeit als Hauptgrund, empfindet 140 Zeichen als einengend, um sich differenziert ausdrücken zu können oder zieht persönliche Kontakte zu den Wählenden der medial vermittelten Interaktion vor. Mangelnde Präsenz der Zielgruppen in sozialen Medien, Angst vor Kontrollverlust über einmal gesendete Inhalte und mangelndes Fachwissen über die neue Technik sind ergänzende Motive der Verweigerinnen.
Nicht bestätigt werden konnten dagegen häufig erwähnte Gründe wie fehlende Ressourcen, seien diese finanzieller oder personeller Natur. Es gibt nämlich ParlamentarierInnen, die selbst dann nicht auf Twitter wären, wenn das jemand für sie bezahlt erledigen würde. Das Medium ist ihnen ganz einfach fremd. Ganz anders als in Bevölkerungsbefragungen spielenauch Bedenken zum Datenschutz bei PolitikerInnen keine Rolle.
Die halbstrukturierten Interviews liessen weitere Gründe aufschimmern: Präferenzen für Facebook mit viel höherer Reichweite als Twitter und Angst, in einen Strudel zu geraten und immer aktiv sein zu müssen, zählen namentlich dazu.

Zu erwarten ist, dass das Limit der Partizipation von gewählten VolksvertreterInnen in der Schweiz bald einmal erreicht sein wird. Der Mainstream unter ihnen ist heute aktiv, einige NachzüglicherInnen dürften noch hinzukommen. National wird man wohl mit drei Vierteln der Volksvertreter auf Twitter am Limit angelangt sein.
In den Kantonen selber ist mit sehr unterdurchschnittlichen Beteiligungsraten zu rechnen. Genf und Zürich sind typischerweise führend, denn sie sind am stärksten urban geprägt. In ruralen Kantonen mit starken, persönlichen Beziehungen zwischen Gewählten und WählerInnen ist davon auszugehen, dass sich soziale Medien in der politischen Kommunikation nie durchsetzen werden.
Mir war vor der Arbeit die viel zitierte Altersabhängigkeit der Nutzung klar bewusst. Neu war für mich, dass die Chance der Nutzung von Twitter bei einer gewählten Frau einiges höher ist als bei einem gewählten Mann. Jay Badran ist demnach der Prototyp der twitternden Parlamentarierin. Liza Mazzone, die junge Genfer Grüne, ist die ganz grosse Ausnahme.

Claude Longchamp

Ladina Triaca, Barbara Wilhelmi, Jessica Zuber: Twitter als digitale Wandelhalle – wer bleibt aussen vor? Eine Analyse der nicht twitternden Parlamentarierinnen und Parlamentarier in der Schweiz. Semesterarbeit im Rahmen des Seminars “Digitale Revolution in der politischen Kommunikation” von Claude Longchamp, IPW Uni Bern 2017.