Auf dem Weg zur illiberalen Demokratie

erschienen am 1.1.2017 in Schweiz am Sonntag

Seit der Wahl Donald Trumps zum 45. US-Präsidenten ist Populismus in aller Munde. Politische Gegner, Leitartikler und Wissenschaftler kennzeichnen damit Opportunismus jenseits bekannter Weltanschauungen, aggressive Kommunikationsstile gegenüber Widersachern oder autoritäre Politikertypen, die Tabus brechen und kleine Leute ansprechen. Reicht das, um zu verstehen, was 2017 in Europa möglich werden kann.

lepen

Das Phänomen
Zur Kennzeichnung von Populismus rückt der niederländische Politologe Cas Mudde die scharfe Trennung von Elite und Basis ins Zentrum: hier das reine Volk, da korrupte Politiker. Nach Jan-Werner Müller, einem deutschen Ideengeschichtler, beanspruchen Populisten zudem die Alleinvertretung des Volkes, die sie mit dem absoluten Willen zur Macht verbinden. Für Karin Priester, deutsche Historikerin, ist Populismus eine schwache Ideologie, die nur in Verbindung mit rechten oder linken Programmen vorkommt.
Oekonomen sehen einen direkten Zusammenhang von Populismus und Globalisierung. Denn sie schafft mit der Ungleichheit zwischen Reich und Arm die wichtigste Voraussetzung für populistische Parteien. Forschungen zeigen, dass deren Wähleranteil rund 5 Jahre nach Finanzmarktkrisen einen Aufschwung kennt. Derweil können sie sich als Parlaments- oder Regierungsparteien etablieren. Danach verringern sich die Effekte oder verschwinden ganz.
Doch ist der Populismus kein Kind des 21. Jahrhunderts. Vielmehr ist er eine schon länger anhaltende Gegenbewegung zum liberalen Grundverständnis, das in den 90er Jahren konsmopolitischer wurde. Kampfbereiche sind die pluralistische Demokratie, der Multilateralismus, die kultureller Toleranz und progressive Gesellschaftsvorstellungen. Denn das kennzeichnet das verfemte Establishment aus, gegen das sich der Populismus wendet.

Wichtige Wahlen 2017
In Frankreich finden 2017 wegen dem Terrorismus Wahlen unter Notrecht statt. Gemäss jüngsten Eurobarometer beschäftigt einzig die Arbeitslosigkeit die Franzosen mehr als die islamistische Gewaltanwendung. Zur Präsidentschaftswahl tritt Marine LePen, Chefin des Front National, an. Umfragen geben ihr und ihrem konservativen Widersacher Francois Fillon für den ersten Wahlgang vergleichbare Chancen. Im zweiten würde, Stand heute, der Kandidat der traditionellen Rechten im Verhältnis von 2 zu 1 gewinnen.
Vielen Beobachtern gilt der Front National als rechtsextrem, kombiniert mit rechtspopulistischem Stil. Ideologische Kennzeichen sind EU-Skepsis und Nationalismus, gesellschaftlich ergeben sich aber Bezüge zu sozialen Forderungen. Im Europaparlament zählen die FN-Vertreter zur EU-kritischen „Europa der Nationen und Freiheit“. Zudem zeigt LePen offene Sympathien für Russlands Putin. An Trump schätzt Le Pen den Kampf gegen das globalisierte Elite. “Damit hat er das Unmögliche möglich gemacht”, sagte sie gegenüber CNN. Uebersetzt auf Frankreich dürfte das bei einem Wahlsieg ein Referendum zum Austritt aus der EU bedeuten.

Die niederländische Partei für die Freiheit ist im Europaparlament in der gleichen Fraktion wie der FN. Ihr Führer Geert Wilders ist wegen hetzerischen Politik jüngst gerichtlich verurteil worden. Davon unberührt wählte ihn eine 40000köpfige Online-Gemeinschaft erneut zum Politiker des Jahres. Auch in jüngsten Umfragen liegt Wilders‘ PVV mit knapp 30 Prozent neuerdings an der Spitze. Der Wahlsieg bei den Parlamentswahlen rückt in greifbare Nähe. Bezweifelt wird allerdings, dass dem Aussenseiter eine Regierungsbildung gelingt. Zu schwach ist seine Verankerung im Parlament.
Eurobarometer-Befragungen zeigen in den Niederlanden einen von Frankreich verschiedenen Hintergrund. Zentral sind Sorgen rund um die soziale Sicherheit, kombiniert mit Zuwanderungskritik. Wilders verbindet beides, indem er seine ursprünglich rechtsliberalen Parolen mit anti-muslimischer Forderungen konkretisierte. Dazu gehört die Schliessung sämtlicher islamischer Schulen bei einer Regierung unter ihm. Auch Wilders stellt seine Politik bewusst ins Licht von Donald Trump: “Amerika gewann 2016 seine nationale Souveränität, ja seine Identität, zurück. Sie propagiert ihre eigene Demokratie – eine wahre Revolution”, kommentierte er jüngst im Interview mit Russia Today.

In Deutschland fordert der Alternative für Deutschland die etablierte Politik heraus. Dabei kann sie sich auf erhebliche Zuwanderungssorgen der Deutschen stützen. Dank schroffer Opposition zur Flüchtlingspolitik der Regierung Merkel schaffte sie jüngst den Einzug in 10 der 16 Landtage. Nationale Umfragen sehen einen denkbaren Wähleranteil bis 16 Prozent. Bundestagsmandate sind damit wahrscheinlich. Der Aufstieg zum Regierungspartner wird kaum folgen. Möglich ist eine Schwächung der CDU/CSU mit einer rot-rot-grünen Koalitionsregierung als Folge. Eine neue Regierung Merkel hätte zudem einen parlamentarischen Widersacher von rechts.
Gestartet ist die AfD 2013 als Partei gegen den EURO-Rettungsschirm im wirtschaftsliberalen Milieu. 2015 erneuerte sie Führung und Programm; seither gilt sie als nationalkonservativ. Partiell finden sich völkische resp. rechtsextreme Ideen. Im Europaparlament sitzt ihre Vertretung neuerdings neben LePen und Wilders. Zu Trump gibt es nur eine beschränkte Nähe. Seine Wahl bezeichnete Parteipräsidentin Frauke Petri zwar “als Sieg über politische korrekte Establishment, das kaum Interesse am Wohlergehen des Volkes zeige”; wiederholt nannte sie jedoch die SVP als AfD-Vorbild.

Was heisst das alles?
Politikwissenschafter sehen im Populismus zuerst ein Zeichen für das Versagen demokratischer Regierungen, erst dann eine Vorstufe zu einem diktatorischen Regime.
Selbst in der gemässigten Variante stehen rechtspopulistische Politiker und Parteien für einen Uebergang zu einem postliberalen Zeitalter. Zur Disposition stehen die liberale Demokratie, weltanschaulich von christdemokratisch über liberal zu sozialdemokratisch aufgestellten Volksparteien. Sie wenden sich gegen die kosmospolitische Kultur des liberalen Westens.
Italien, das in den 90er Jahren Trendsetter in der EU war, hat unter Berlusconi dennoch die Demokratie nicht abgeschafft. Das gilt auch für die Slowakei und Litauen, wo gegenwärtig rechtspopulistische Parteien in Koalitionsregierungen eingebettet sind. Es trifft auch auf weitere osteuropäische Länder zu, die nationalkonservative Regierungsparteien mit rechtspopulistischem Charakter kennen.
In Polen, Ungarn und Grossbritannien bilden Rechtskonservative mit offenen Ohren für Rechtspopulismus die Regierungen alleine. Ungarn ist dabei dem Einparteienstaat am nächsten. Daran kann man am klarsten ablesen, was kommen könnte: Denn auch ohne Wahlsiege bieten die Wahlen 2017 eine ideale Plattform für die rechtspopulistische Kritik am herrschenden System. Der Politikerverdruss der Massen verbindet sich dabei mit einer Abkühlung demokratischer Ueberzeugungen speziell in nachwachsenden Generationen. Alles funktioniert auf der Basis eines erstarkten Nationalismus, ist autokratisch und Europa-aversiv. Vor allem verringert sich das Bewusstsein für Menschenrechte und Rechtsstaatlichkeit.
Die liberale Demokratie mutiert so schrittweise zu einem illiberalen Typ.

Claude Longchamp