Die konsenslose Konkordanz

Was bedeutet es, ein Regierungssystem zu haben, das auf Konkordanz ohne Konsens basiert? Eine Auslegeordung, genau 57 Jahre nach Einführung der Zauberformel.

17. Dezember 1959: Die Vereinigte Bundesversammlung wählt den einen neuen Bundesrat. Der Beitrag des Schweizer Fernsehens hierzu spricht in optimistischer Voraussicht von einem neuen Kapitel, das begonnen habe. Nach 111 Jahren freisinniger Allein- oder Vorherrschaft, so die Begründung, eröffne die Zauberformel variable Mehrheiten in der Bundesregierung, in deren Zentrum neu die Katholisch-Christdemokratischen Konservtiven (heute CVP) stehen. Denn die neue Zusammensetzung mit je 2 FDP, CVP und SP resp. 1 SVP erlaubte es der neuen Mitte Wirtschafts- und Finanzpolitik im bürgerlichen Verbund zu betreiben, derweil Sozial- oder Infrastrukturpolitik in Kooperation der mit der SP vorangetrieben werden konnte.

Je nach Betrachtungsweise brachten die Bundesratswahlen von 2003 resp. 2007 das Ende der Zauberformel. Denn vor 13 Jahren verlor die CVP und mit ihr die gestaltende Mitte ihren zweiten Bundesratssitzung an die SVP. Diese wiederum büsste mit der Abwahl von Christoph Blocher aus dem Bundesrat vor neun Jahren ihren Einfluss von auf das Geschehen in der Regierung ein. Vorübergehend verzichtete sie gar auf eigene Bundesräte, dies zugunsten der Parteiabspaltung BDP. 2009 und 2015 kamen die wählerstärkste Partei und die Bundesversammlung darauf zurück. Das Zwischenspiel mit Eveline Widmer-Schlumpf als Mehrheitsbeschafferin fand vor Jahresfrist ihr Ende. Seither einem Jahr gilt wieder die Formel von 2007, welche der numerischen Konkordanz entspricht – eine Stufe tiefer als der Allianz aufgrund eines minimalen Elitekonsenses.

Die Schweizer PolitologInnen sprechen seither von der entzauberten Schweizer Demokratie. Adrian Vatter betont noch am stärksten die institutionellen Kräfte, die eine Zusammenarbeiten bedingen. Doch auch er ortet zunehmend zentrifugale, denn zentripetale Trends. Gemäss Michael Hermann sind wir praktisch flächendeckend zur Mehrheitsdemokratie übergegangen. Pascal Sciarini schliesslich meint, die grosse Konkordanz müsse durch eine kleine mit nur eine Polpartei in der Regierung ersetzt werden. Die Zürcher Politiologin Silja Häusermann stellt sich dazwischen, denn sie redet einem Hybrid mit der offenem Wettbewerb an Stelle des gütlichen Einvernehmens das Wort. SP und SVP betreiben die konkurrenziven Form des Regierens schon länger, indem sie selbst als Regierungsparteien mit ihren Kernthemen für die kommenden Wahlen bewusste Oppositionspolitik betrieben: In Fragen der Sozial- oder Steuerpoltik lassen sich die einen kaum mehr einbinden, während die anderen bei Europa- und Migrationsproblemen die Hand zu Kompromissen nicht mehr reichen.

Die neueste Stufe der konsenslosen Konkordanz erleben wir seit des Parlaments- und Bundesratswahlen von 2015. Quasi als finale Durchdeklinierung des parteipolitischen Wettbewerbs bekämpfen sich nun auch CVP und FDP zunehmend häufiger in Sachfragen. Mit der klaren Differenz bei der Umsetzung der Masseneinwanderungsinitiative, aber auch bei der Rentenreform 2020 sind gleich zwei der zentralen Dossiers der laufenden Legislaturperiode betoffen – und die Ausgänge in der Sache, aber auch der Zukunft des Regierungssystems sind es ebenso.

Was bedeutet es, ein hybrides Regierungssystem zu haben? Skepsis regiert die Szenerie. Die Parteienbasis des Regierungssystems ist pluralistisch, was es den zahlreichen Konflikten n der schweizerischen Gesellschaft erlaubt, angemessen zum Ausdruck zu kommen. Allerings geschieht dies mit dem Preis der hohen und mehrdimensionalen Polarisierung, die berechenbare und solide Kompromisse kaum mehr ermöglicht. Die Politikwissenschaft nennt das, was wir in der Schweiz 57 Jahre nach der Einführung der Zauberformal haben, polarisierten Pluralismus. Elektoraler Fundamentalismus statt Pragmatismus bei der Lösungssuche ist die wesentliche Kennzeichnung.

Der Rat der Poltikwissenschaft in einem solchen Situation lautet: Entweder findet die Politik in Kernfragen zur vermittelten Kooperation zurück, oder aber das System gerät aus den Fugen und bedarf einer grundlegenden Erneuerung.
2015 entschied man sich, zur formelhaften Politik zurückzukehren. 2016 steht eher dafür, die Poltik der konsenslosen Konkordanz vorangetrieben wird.

Claude Longchamp