Entscheidet das Geschlecht über den Atomausstieg?

Bei der Moratoriumsinitiative und bei der Liberalisierung des Energiemarktes fielen die Mehrheiten von Frauen und Männern in der Stimmabgabe auseinander. Zwei Mal gaben die Frauen den Ausschlag: Deshalb die Frage, ob das Geschlecht auch beim Atomausstieg entscheidend ist.

57 Prozent dafür, 36 Prozent dagegen, 7 Prozent unentschieden. Das ist das Hauptergebnis der ersten SRG-Umfrage zur Volksinitiative der Grünen, die einen gestaffelten, zeitlich fixierten Ausstieg aus der Atomenergie verlangt. Fast noch interessanter als das ist der Split nach Geschlecht. Bei Frauen sind 63 Prozent dafür und nur 28 Prozent dagegen, bei Männern ist das Verhältnis mit 50 zu 43 Prozent dagegen fast ausgeglichen.
Mehr noch, bei Frauen sind 44 Prozent bestimmt dafür, aber nur 14 Prozent bestimmt dagegen, derweil diese Anteile bei Männern 34 zu 29 Prozent lauten.
Damit beträgt die Differenz bei der Zustimmungsbereitschaft 13 Prozentpunkte, bei der Ablehnungstendenz gar 15 Zähler. Bei den Entschiedenen liegen die Frauen im Ja mit 10 Punkten im Vorsprung, die Männer im Nein mit 15.

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Vergleicht man das mit anderen frühen Umfragen, ist beides unüblich. Unterschiede in den Stimmabsichten nach Geschlecht gibt es zwar immer wieder, meistens aber wegen des unterschiedlichen Standes der Meinungsbildung. Frauen sind, je früher man sich nach Stimmabsichten erkundigt, in aller Regel unschlüssiger als Männer. Ihre Entscheidung kommt üblicherweise verstärkt unter dem Eindruck des Abstimmungskampfes zustande.
Diesmal ist das nicht ganz so. Anhand der aktuellen Umfrage kann man bestätigen, dass Männer etwas festgelegter sind als Frauen. Die Wirkungen der Nein-Argumente sind durchwegs grösser. Die Angst vor Stromengpässen zieht mehr. Stromimporte erscheinen bedenklicher und Schadenersatzforderung bei einer limitierten Laufzeit klingen plausibler.
Bei Frauen wirkt dafür die Gefahr des Maschinenparks wegen des Alters der Kernkraftwerke am klarsten, und auch mehr als bei Männern. Letzteres gilt auch für das Vertrauen in neue Technologien, die den Ausstieg ermöglichen.

Wir orten tendenziell ein Auseinanderfallen der Diskurse für resp. gegen die Initiative entlang des Geschlechts. Auf Sicherheit sind beide ausgerichtet, aber eine ganz andere Sicherheit: Bei Frauen geht es um die Gefahren, wenn man die Kraftwerke nicht schnell abstellt, bei Männern um die Versorgungssicherheit, wenn man rasch verfährt. Dahinter stecken unterschiedliche Wertkonzepte: Die materialistische Argumentation der Gegner, stärker wirtschaftsorientiert, ist für Männer eingängiger. Die postmaterialistische der Befürworterinnen, auf Lebensqualität ausgerichtet, zieht bei Frauen mehr.

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Die Erfahrung lehrt uns hier, dass die Unterscheidung ganz rechts keine Rolle spielt und ganz links nur wenig zur Erklärung des Stimmverhaltens beiträgt. Demgegenüber ist sie im Zentrum von Belang, denn da unterscheiden sich Frauen und Männer entlang der (nach)materialistischen Präferenzen am deutlichsten. Relevant war das beispielsweise auch beim Moratorium für neue Kernkraftwerke 1990. Das kam in der Volksabstimmung dank dem klaren Ja der Frauen (63%:37%) zustande, derweil eine knappe Mehrheit der Männer dagegen war (40%:51%). Auch die Liberalisierung des Energiemarktgesetzes versenkten die Frauen mit ihren 58 Prozent Gegnerschaft, bei den Männern waren 53 Prozent dafür.

Gut denkbar ist, dass die Kampagnen in den kommenden Wochen noch mehr auseinandergehen werden. Nicht nur, weil sie interessenmässig für oder gegen die Initiative sind, sondern weil man unterschiedliche Wertkonzepte vertritt, um andere Zielgruppen anzusprechen. Den Initianten kann dabei kommunikativ zupass kommen, dass die politische Trägerschaft des Begehrens bereits erheblich feminisiert ist, während die Fachleute in Energiefragen, von Ausnahmen abgesehen, meist Männer sind.
Joker im Ganzen könnte Bundesrätin Doris Leuthard werden, eine Frau aus dem bürgerlichen Zentrum, die sich klar für die Energiewende, aber auch ebenso klar gegen die grüne Initiative ausgesprochen hat.

Claude Longchamp