Chancen und Risiken eines liberal ausgerichteten Gesundheitswesens – Bilanz nach 20 Jahren Gesundheitsmonitor

Am 1. Januar 1996 wurde das neue Krankenversicherungsgesetz in die Schweizer Rechtsordnung eingeführt. Im gleichen Jahr begannen wir von gfs.bern mit dem Gesundheitsmonitor. Dieses Beobachtungsinstrument versteht sich als zuverlässiger Rahmen, der Veränderungen in den Einstellungen der Bürgerinnen und Bürger zum schweizerischen Gesundheitswesen beobachtet. Das 20-jährige Bestehen des Gesetzes wie auch des Monitors ist der Anlass, die Menge an erhobenen Daten systematisch zu sichten und einer übergeordneten Würdigung zu unterziehen.

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Zuerst das Faktische:

Erstens, es gelang in einem erheblichen Masse, die Akzeptanz des KVG zu steigern. In der Volksabstimmung waren 52 Prozent der Stimmenden dafür. Bezogen auf die Stimmberechtigten bewegten sich die Werte lang in diesem Bereich. Seit 10 Jahren nimmt die Zustimmung zwar nicht konstant, aber mit-telfristig gerichtet zu. Aktuell liegt der Anteil an Bürgerinnen und Bürgern, die eine eher oder sehr positive Bilanz ziehen, bei 81 Prozent. Gefestigt hat sich auch die Mehrheit, die mit dem Stand des heutigen Leistungskatalogs in der Grundversicherung zufrieden ist.
Zweitens, wertemässig ist das Gesundheitswesen der Schweiz mehrheitlich abgestützt. Das gilt insbesondere für die Qualitätsorientierung und Wahlfreiheiten, auf Dauer die beiden zentralsten und am breitesten geteilten Erwartungen der Stimmberechtigten. Besser verankert als auch schon ist namentlich das föderalistische Prinzip im Gesundheitswesen. 2003 befürworteten dies 40 Pro-zent der Stimmberechtigten, heute sind es 65 Prozent. Zugenommen hat auch der Wunsch nach einer marktwirtschaftlichen Ausrichtung. Der Anteil ist in den letzten 13 Jahren um 16 Prozentpunkte auf 66 Prozent angestiegen.
Drittens, geblieben ist der Kostendruck, denn die Hoffnungen auf Kostenkontrolle dank KVG haben sich nicht erfüllt. 39 Prozent bekunden trotz Entlas-tungsmassnahmen für unterste Einkommensschichten regelmässige oder ge-legentliche Probleme mit dem Bezahlen von Rechnungen der Krankenkasse. 2016 ist das allerdings erstmals nicht die meistgeteilte Klage. Denn neu sind es 40 Prozent, die Probleme haben, Arzt- oder Medikamentenrechnungen Ende Monat zu begleichen. Die Ursache ist recht klar: Mehr und mehr geht man über, Kosten für die eigene Gesundheit selbst zu bezahlen, merkt aber die Folgen dieser Änderung direkt.
Viertens, zu den Negativpunkten zählt, dass sich der selbstreferierte Gesundheitszustand der Stimmberechtigten nicht verbessert hat. Im letzten Jahrhundert verwiesen zahlreiche Befragungen auf einen Anteil von 85 bis 95 Prozent, der sich gesundheitlich als sehr gut oder gut bezeichnete. Der Anteil ist zwischenzeitlich auf gut 60 Prozent gesunken, wobei der Trend praktisch ungebrochen ist. Plausibel angenommen werden kann, dass nicht physischen Leiden zugenommen haben; vielmehr sind es die psychischen, stressbedingten Krankheitssymptome, die zu einer nur eher guten Gesamtbilanz führen.
Fünftens, auch die Gesundheitskompetenzen der Schweizerinnen und Schweizer konnten im beobachteten Zeitraum nicht gesteigert werden. Wenn es um Fragen des Gesundheitswesens geht, geben sich die Befragten auf einer 10er-Skala im Schnitt eine 4.7. 2008 lag der bisherige Spitzenwert bei 6.2. Klar davor rangieren die Leistungserbringer wie die Ärzte, die Pharmabranche oder die Apotheken. Parallel dazu ist auch das Interesse an Gesundheitsfragen nicht gestiegen, sondern mit Schwankungen aufgrund der Aktualität von 83 Prozent 1997 auf 61 im letzten Jahr gesunken.

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Dann eine Würdigung:

Zu den Eigenheiten der Einstellungen im Gesundheitswesen gehört, dass die aller meisten Meinungen überparteilich verteilt sind. Waren bei der Volksabstimmung zur Einführung des KVG nur Mehrheiten der SP-, CVP- und FDP-Wählerschaften dafür, finden sich heute nur selten signifikanten Differenzen nach politischen Orientierungen. Sprache, Schicht, Alter und Geschlecht als Kennzeichnungen der Meinungen im Gesundheitswesen sind aber geblieben. Mit der epochalen Veränderung des schweizerischen Gesundheitswesens nach der Einführung des KVG haben sich die meisten Bürgerinnen und Bürger gut arrangiert. Problematisch bleiben die finanziellen Belastungen – und davon nicht unabhängig der Wille, für sich selbst gesundheitspolitisch korrekt zu leben. Einerseits zeigt sich, dass man sich bisweilen überfordert fühlt, anderseits auch nicht belehrt werden will. Das korreliert mit den finanziellen Möglichkeiten, für sich selber Verantwortung zu tragen. Je geringer diese ausgeprägt sind, desto geringer ist diese Bereitschaft auch ausgeprägt. Und desto eher erwartet man, dass die Gemeinschaft und der Staat dafür verantwortlich sind und bleiben.

Claude Longchamp