Abstimmungsumfragen: der verkannte Wert von Argumententests

Es hat sich eingebürgert, zur Ermittlung von Stärkenverhältnissen Pro und Kontra bei Vorbefragungen zu Volksabstimmungen, mit der Sonntagsfrage zu arbeiten. Doch ist das nicht die einzige Möglichkeit, abzuschätzen, was bis am Abstimmungstag geschehen kann. Eine immer wichtiger werdende Alternative hierzu sind Argumententests.

Es gehört zu den ebenso bewährten Vorgehensweisen, in Vorumfragen zu Volksabstimmungen Botschaften beider Seiten hinsichtlich ihrer Akzeptanz und Wirkung zu testen. Nun kann man mit der Gesamtheit geprüfter Argumente auch bestimmen, ob eine Personen einer der beiden Seiten inhaltlich näher steht. Systematische Tests, die wir in den letzten acht Jahren unternommen haben, legen nahe, aus allen Bewertungen von Botschaften einen Index zu bilden. Dieser gibt an, wie gross die Anteile sind, die mental mit dem Ja- oder dem Nein-Lager übereinstimmen.

Ausgesprochen nützlich sind Vergleiche von Stimmabsichten und indexierten Argumenten beispielsweise nach Parteiwählerschaften. Theoretisch ist denkbar, dass die Verhältnisse weitgehend übereinstimmen, aber auch dass sie unterschiedlich ausfallen. Tritt Ersteres ein, liegt ein deutlicher Hinweis vor, dass die Meinungsbildung fortgeschritten ist. Man kann auch von einer argumentativ unterlegten Stimmabsicht sprechen. Oder anders gesagt: Stimmabsichten folgen einer detaillierten Bilanz, die man sich aufgrund der Botschaften der Komitees gemacht hat. Dieser Fall entspricht weitgehend dem, was die Rational-Choice-Theorie erwartet.

Allerdings, die Stimmabsichten müssen diesem Ideal nicht zwingend entsprechen. Vor allem in einer frühen Phase der Meinungsbildung kann es sein, dass anderes entscheidend ist: zum Beispiel das Behördenvertrauen/-misstrauen, die Parteiidentifikation oder weltanschauliche Werthaltung. Die Abstimmungsforschung spricht von “Shortcuts”, Entscheidungshilfen, die einen raschen Entschluss zulassen. In unserer Sprache sind das alles so Prädispositionen. Sie bestehen schon vor dem Abstimmungskampf, und sie erlauben es, eine grundlegende Situierung zu einer gestellten Frage vorzunehmen. Auch kann es sich dabei um spezifische Prädispositionen handeln, etwa Erfahrungen, die man mit einem Thema, über das entschieden wird, im Alltag macht, ohne sich mit den Forderungen im Verfassungs- oder Gesetzesvorschlag befasst zu haben.

Stellt man auf unsere Vorbefragungen zur Meinungsbildung bei den anstehenden Volksentscheidungen vom 5. Juni ab, kann man drei typische Unterscheidungen vornehmen:
Fall 1: Stimmabsichten und Argumentenindex sind identisch (wie beim Bedingungslosen Grundeinkommen).
bge

Fall 2: Stimmabsichten und Argumentenindex unterscheiden sich flächendeckend (wie bei Service-Public-Initiative).
psp

Fall 3: Der Argumentenindex polarisiert in beide Richtungen, ganz anders als die Stimmabsichten (wie das beim Asylgesetz auftritt).
aslyg

Unsere Folgerungen lauten: Beim ersten Fall handelt es sich um die bereits erwähnte, gesättigte Form der Meinungsbildung. Der zweite Fall verweist darauf, dass sich die Stimmabsichten im Abstimmungskampf generell in eine Richtung verändern dürften, nämlich hin zum Indexwert Argumententest. Im dritten Fall ist mit einer noch aussehenden Polarisierung der Parteilager zu rechnen.

Konkret heisst dies: Bei der Service-Public-Initiative ist gehen wir davon aus, dass sich die vorteilhaften Werte für die Stimmabsichten tendenziell verschlechtern, wenn man sich mit den Argumenten Pro und Kontra auseinandersetzt. Der positive Sympathiewert in der Ausgangslage täuscht über das finale Stimmverhalten hinweg. Wahrscheinlich ist, dass mit dem Abstimmungskampf das Nein zunimmt und sich das Ja verringert.

Beim Asylgesetz erwarten wir keine flächendeckend einheitliche Tendenz, vielmehr eine Polarisierung. Bei der SVP ist von einer verstärkten Ablehnung auszugehen, Mitte/links erscheint eine verstärkte Zustimmung möglich. Am schwierigsten einzuschätzen sind hier namentlich die Parteiungebundenen. Sie stehen zwischen den Polen, allerdings mit einem Indexwert, der unter den jetzigen Stimmabsichten ist. Botschaften, die von überparteilichen Vertreterinnen und Vertretern im Abstimmungskampf ausgesendet werden, dürften gerade in dieser Gruppe den Ausschlag geben.

Bei der Service-public-Vorlage rechnen wir deshalb mit einem Rückgang der Zustimmung, wenn auch das Mass der Veränderung offen bleibt. Bei der Asylgesetzrevision sind Veränderungen in beide Richtungen möglich.

Claude Longchamp