Elektorale Integrität: Wie Jung- und Kleinparteien vom heutigen Wahlrecht benachteiligt werden

Studentischer Gastbeitrag von Salim Brüggemann, Mastertrack Datenjournalismus, Institut für Politikwissenschaft Uni Zuerich

In der Öffentlichkeit ist wenig bekannt über die Unfairness eidgenössischer Nationalratswahlen. Zwar kennt die Schweiz keine Wahlhürden wie etwa Deutschland, wo bei den letzten Bundestagswahlen 2013 rekordverdächtige 15,7 % der Stimmen unberücksichtigt blieben, weil sie an der 5 %-Hürde scheiterten. Dennoch werden die kleinsten Parteien auch in der kleinen Schweiz durch das Wahlrecht systematisch benachteiligt. Wie kommt das?

Wie Claudio Kuster zurecht bemerkt, gibt es DIE Schweizer Nationalratswahlen gar nicht. Stattdessen finden streng genommen 26 verschiedene Nationalratswahlen statt – in jedem Kanton eine. Die Organisierung des Wahlrechts ist ein alter Zopf und auch im Falle der grossen Parlamentskammer weitgehend kantonalem Recht unterstellt. Diese Aufteilung in 26 Wahlkreise sorgt dafür, dass ein gewisser Teil der Stimmen schlicht verloren geht bzw. über Listenverbindungen nur indirekt Eingang ins Wahlresultat findet.
Nebst dem Wahlverfahren, dessen genaue Ausgestaltung eben den Kantonen obliegt, spielt insbesondere die Wahlkreisgrösse eine erhebliche Rolle für die (Un-)Gleichheit in der Sitzverteilung. Je weniger Stimmbürger ein Kanton zählt, desto mehr Stimmen finden keine Berücksichtigung, weil sie das Mindestquorum für einen Sitz nicht zu erfüllen vermögen.
Die Parteien sind sich dessen bewusst und treten daher in kleinen Kantonen vielfach gar nicht erst zur Wahl an – wodurch sich die Wahlverzerrung um eine kaum quantifizierbare Dunkelziffer vergrössert und viele Stimmberechtigte davon abhalten dürfte, nur schon ihren Wahlzettel einzuwerfen.
Dass letzten Herbst im Kanton Nidwalden überhaupt eine echte – und keine stille – Nationalratswahl stattfand, ist alleinig der halbernst gemeinten Initiative von WOZ-Journalist Andreas Fagetti zu verdanken. Ansonsten wäre schlicht der einzige weitere Kandidat und SVP-Vertreter Peter Keller konkurrenzlos im Amt bestätigt worden. Die 2’776 bzw. 17,1 % an (Protest-)Stimmen, die Fagetti erhielt, sind ein exemplarisches Beispiel für die Problematik. Denn sie waren im Endeffekt einfach verloren.
In diesem Falle eher unproblematisch, mag man einwenden, da Fagetti ja sowieso keiner Partei angehört und als Unabhängiger antrat. Doch bei vielen anderen KandidatInnen ist das Gegenteil der Fall. Sie vertreten in erster Linie ein bestimmtes politisches Programm, das ihre WählerInnen auch dann gerne berücksichtigt sähen, wenn es für die konkrete Kandidatur nicht ausreichen sollte.
Der fehlende Doppelproporz wird also umso stossender, je grösser die schweizweit aufsummierte Zahl an verlorenen oder über Listenverbindungen nur indirekt berücksichtigten Stimmen für eine Partei ausfällt. Kuster hat sich nach den Wahlen vom letzten Herbst die einzelnen Zahlen genau angeschaut und ausgerechnet, wie die Sitzverteilung ausfiele, würde der Nationalrat nach dem doppeltproportionalen Zuteilungsverfahren gewählt – umgangssprachlich auch unter dem Namen “Doppelter Pukelsheim” bekannt. Das Resultat dieser Analyse findet sich in untenstehender Grafik.

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Die Parteien sind aufgeteilt in je eine Gruppe für die Jungparteien (blau) und eine für die anderen Parteien (orange). Innerhalb der Gruppen wiederum sind sie von links nach rechts ungefähr entsprechend ihrer politischen Positionierung auf der Links-Rechts-Achse angeordnet (entsprechend gängigen Einordnungen). Die berechneten Sitzverschiebungen basieren zwar nicht auf den endgültigen, sondern den zwischenzeitlich überholten „vorläufigen“ Wahlergebnissen. Dennoch vermitteln sie einen guten Eindruck von den Auswirkungen des Doppelproporzes.
Was sofort auffällt, ist dass alle aufgeführten Jungparteien neu mindestens einen Sitz erhielten, die JUSO und die jungen Grünen gar deren zwei. Weitere Kleinparteien wie die Piraten, die heute genauso an den kantonalen Mindestquoren scheitern, wären neu ebenfalls in der grossen Parla-mentskammer vertreten.
Demgegenüber stehen Sitzverluste bei allen grossen Bundesratsparteien – bei der SP gar um 10 Stück. Dies deutet darauf hin, dass sie in vielen Kantonen geschickte Listenverbindungen eingegangen ist, was die Verzerrung des Wählerwillens durchaus bis zu einem gewissen Grade abzumildern vermag.
Dessen ungeachtet ist das Problem evident und stellt ein klares Defizit bezüglich der elektoralen Integrität der Schweiz dar. Also höchste Zeit für die Einführung des Doppelproporzes auf nationaler Ebene!