Frauen setzen sich bei Volksabstimmungen häufiger durch als Männer.

Heute vor 45 Jahren führte die Schweiz das Frauenstimm- und Wahlrecht auf gesamtschweizerischer Ebene ein. Was seither geschah, lässt sich anhand der VOX-Analysen eidg. Volksabstimmungen detailliert nachzeichnen. Hier die Grundlage für einen Tagesschaubeitrag.

Bei der Einführung des heute geltenden Ehe- und Erbrecht (1985) liess sich nachweisen, dass Männer und Frauen nicht nur statistisch gesichert unterschiedlich stimmten. Vielmehr waren die Mehrheiten verschieden – und die Frauen gaben erstmals den Ausschlag, dass die Vorlage in der Volksabstimmung passierte. Das Alles war neu.
Die Nachbefragungen eidgenössischer Volksabstimmungen legen seither nahe, dass eine vergleichbare Situation in den vergangenen 30 Jahren weitere 23 Mal eingetroffen ist. Allerdings war die Differenz in den Stimmabgaben in zehn Fällen zu gering, um von der Umfrage auf die Stimmenden schliessen zu können. Damit verbleiben 14 spannende Fälle, die näher betrachtet werden sollen. Dabei zeigt sich dreierlei:

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Politisierungsschub mit Bundesratswahl 1993
Erstens, zeitlich gesehen fällt der Rekord in der 44. Legislaturperiode auf. Die hier untersuchte Konstellation stellte sich gleich acht Mal ein, sieben Mal davon nach der nach der Nicht-Wahl von Christiane Brunner in den Bundesrat. Das achte Mal war zudem nach dem Frauenstreik, mit dem die Frauen die Durchsetzung der gleichen Rechte für Frauen forderten. Man kann daraus ableiten, dass die Politisierung der Geschlechterfrage zu Beginn der 90er Jahre ein wesentlicher Grund war, dass sich die Abstimmungsentscheidungen von Mann und Frau häufiger zu unterscheiden begannen. Dafür spricht auch, dass der erste Fall in dieser Hinsicht überhaupt just ein Jahr nach dem Rücktritt von Elisabeth Kopp aus dem Bundesrat war, verbunden mit der Nichtwahl von Lilian Uchtenhagen, was die damalige Schweiz aufwühlte.

Frauen häufiger entscheidend als Männer

Zweitens, mit dem Blick auf die Macht bei Volksabstimmung ist erwähnenswert, dass bei den 14 relevanten Fallbeispielen die Frauen 11 Mal gleich wie die Mehrheit der Stimmenden entschieden, die Männer nur drei Mal. Mit anderen Worten: Ohne die Einführung des Frauenstimmrechts wären in den vergangenen 45 Jahren einige Volksentscheidungen genau umgekehrt ausgegangen.
So hätte die Schweiz mit aller Wahrscheinlichkeit nicht nur das geltende Ehe- und Erbrecht nicht. Sie hätte auch die Kulturförderung nicht erhöht, gar keine erleichterte Einbürgerung und keine Rassismusstrafnorm im Sinne der UNO. Ohne die Frauen- Opposition wäre allerdings die Lex Friedrich Mitte der 90er Jahre verschärft worden, ebenso die Arbeitslosenversicherung, die Liberalisierung des Elektrizitätsmarktes, und der Gripenkauf wäre 2014 getätigt worden. Ueberstimmt wurden die Frauen schliesslich beim Krankenversicherungsgesetz, das sie in ihrer Mehrheit verwarfen, während sich die Männermehrheit knapp durchsetzte.
Bei Volksinitiativen sind Unterschiede in den Mehrheiten Männern und Frauen noch etwas seltener. Sechs Mal war das aber auch hier massgeblich. Ohne die Frauenmehrheit wäre die Moratoriumsinitiative nicht angenommen worden – ebenso die Unverjährbarkeitsinitiative. Von den Männern verhindert wurden die Volksinitiativen für einen verschärften Tierschutz, für Poststellen für alle und für restriktiven Waffenbesitz. Derweil verhinderten die Frauen eine verschärfte Praxis gegen illegale Einwanderer.

Frauen bisher etwas linker, Männer etwas rechter
Drittens, politisch gesprochen haben die Frauen in den untersuchten Fällen 12 Mal “linker” gestimmt, 2 Mal “rechter”. Die beiden abweichenden Fälle betrafen die Einführung des KVG und der Unverjährbarkeit von Gewaltverbrechen. Generalisierte Schlüsse auf die Sozialpolitik und das Strafrecht kann man daraus aber nicht ziehen, denn sie bleiben in diesen Domänen Einzelfälle. Zu beobachten gilt es allerdings, ob mit der Verlagerung des Politik nach rechts die drei Thesen, die hier entwickelt wurden, weiterhin Gültigkeit haben werden.

Bis dahin kann man festhalten: Das Bild der konservativen Frauen, wie es 1971 im Abstimmungskampf gezeichnet wurde, ist heute weitgehend überholt. Die Gründe können in der Politisierung der Frauen gesehen werden, die auf die Einführung folgte. Bundesratswahlen spielten dabei eine besondere Rolle. Die Politisierung hat die Partizipation ansteigen lassen, und auch die Repräsentation mit Ausnahme jener im Ständerat befördert. Bei Männern wie Frauen gilt, dass die politische Bildung, abhängig vom Schulabschluss die Politisierung beeinflusst. Bei Frauen kommt hinzu, dass sie es namentlich bei den älteren unter ihnen noch Phänomene gibt, die aus der Zeit stammen, bevor sie das Stimm- und Wahlrecht erhielten. Mit der Politisierung kam es auch zu einer eigenständigeren Meinungsbildung. Nicht nur Interessen aufgrund geschlechtsspezifischer Betroffenheiten beeinflussen die Meinungsbildung. Wiederkehrend sind unterschiedliche Ansichten insbesondere in Fragen der Armee, der Wirtschaftsethik und gesellschaftlichen Diskriminierungen.

Claude Longchamp