Wahlforschung zwischen Theorie und Praxis: Mein Rückblick auf die Wahlen 2015 als Vorlesung

Die Vorlesung im Frühlingssemester 2016 will Studierende der Politikwissenschaft (oder verwandter Disziplinen) an der Universität Zürich in den Stand der Wahlforschung ganz allgemein und speziell der aktuellen Wahlanalyse in der Schweiz einführen. Gegenstand sind dabei die Wahlen 2015, also die jüngsten National-, Stände- und Bundesratswahlen. Sie sollen im Lichte der Theorien analysiert werden.

Die Grosswetterlage
Das Wahljahr 2015 begann mit den Wahlen in Griechenland, und es endete mit jenen in Spanien. Zweimal gewannen neue Parteien der Linken, und zweimal verloren Konservative ihre mehrheitliche oder starke Stellung in einem EU-Mitgliedstaat. Damit nicht genug: Spätestens seit den EU-Wahlen 2014 ist auch der Aufschwung rechtsnationaler Kräfte ein grosses Thema in Wahlanalysen geworden. In Ungarn und Polen bilden Repräsentanten dieser Richtung die nationale Regierung, und in zahlreichen Ländern Europa hängen die Exekutiven von rechtoppositionellen Kräften ab. Verlierer war häufig die klassische Linke. Neuerdings stellt man sich gar die Frage, ob die EU angesichts Terrorismus, Flüchtlingskrise und Sparpolitiken auseinander brechen könnte.

Die Wahlen in der Schweiz

Die jüngsten Wahlen in der Schweiz waren nicht minder interessant. SVP und FDP verfügen im Nationalrat zusammen mit kleinen Rechtsparteien neuerdings über eine Mehrheit. In den Ständeratswahlen dominierte zwar die Konstanz, doch Variabilität zeigte sich auch bei den Bundesratswahlen, wo die SVP zulasten der BDP gestärkt wurden.
Allgemein sprach man bei den Wahlen 2015 von einem Rechtsrutsch. Wer ganz genau hinschaute, sprach auch innerhalb der Parteien von einem Rechtstrend. Eindeutiger Verlierer der Wahlen 2015 war die junge BDP, die nach acht Jahren den Status als Regierungspartei einbüsste. Verloren haben aber auch die verschiedenen grünen Parteien, die Wählende angaben, ebenso Sitze und wohl auch die Themenführung in der Oekologie-Frage einbüssten.
In ersten Kommentaren verwiesen PolitikwissenschafterInnen darauf, dass die Gewinnerparteien gleichzeitig auch über die grössten Werbebudgets verfügten. Analysiert wurde die Wirkung der Mobilisierung Erst- und Neuwähler, welche die Siegerparteien verstärkten. Gesucht wurden Schlüsselthemen der Legislatur, verbunden mit der Frage, wer sich in Migrations-, Europa- und Finanzfragen in welcher Konstellation durchsetzen werden. Zahlreiche Stimmen zeigten sich skeptisch, dass es zu Blockbildungen kommen werde, denn ohne die (geschwächte) Mitte werde es keine stabilen Mehrheiten geben.

Das Konkrete und das Abstrakte

Was heisst das alles aus Sicht der politik- resp. sozialwissenschaftlichen Wahlforschung? Was ändert sich in der Politik, in den Prozessen und den institutionellen Grundlagen hierzu? – Diesen Fragen geht meine Bachelor-Vorlesung im Frühlingssemester 2016 am Institut für Politikwissenschaft der Universität Zürich nach.
Praxisbezogen ist die Veranstaltung, weil sie von konkreten Beispielen aus dem Wahljahr 2015 ausgeht. Theoriebezogen ist sie, weil sie das Konkrete mit den abstrakten Vorstellungen der Wissenschaft analysieren wird. Zur Sprache kommen die Entwicklungen des politischen Systems, aber auch des Medien- und Parteiensystems. Gezeigt werden die Einflüsse des Wahlrechts und neue Konfliktlagen auf deren Strukturen. Vorgestellt werden die wichtigsten Erkenntnisse aus der amtlichen Statistik, aber auch der politikwissenschaftlichen Erstanalysen. Erstmals behandelt werden auch die zahlreichen datenjournalistischen Produkte, die den Wahlkampf 2015 mitprägten. Genauso behandeln werde ich erstmals den Gebrauch sozialer Medien im Wahlkampf.
Dabei geht es nicht um eine Chronik der Ereignisse, vielmehr um Material, das aufgrund ökonomischer, psychologischer und medienwissenschaftlicher Theorien zum Verhalten der Wählenden untersucht werden soll. Zudem werden die Wahlen als Teil der politischen Partizipation besprochen und des Wandels der politischen Kommunikation. Schliesslich ziehe ich Bilanz, was die Wahlforschung vor dem Wahltag kann, und welche Rolle die Politikwissenschaft bei Wahlen spielt.

Ein Experiment
Das Ganze ist ein Experiment. Meine bisherige Vorlesung zur Wahlforschung war systematischer aufgebaut, quasi von der Theorie geleitet, verbunden mit einzelnen Anwendungen. Neu wird das Schwergewicht verlagert: Das Anschauliche soll bestimmen, wozu referiert wird ohne dass ich dabei stehen bleiben werde.
Interessierte melden sich bei der Ausschreibung mit Vorteil rasch an, denn die Lehrveranstaltung „Wahlforschung in Theorie und Praxis“ ist in der Regel schnell ausgebucht.

Claude Longchamp