Wahlen und Wählerschaft in der Schweiz – Buchbesprechung der Neuerscheinung

Gerade rechtzeitig vor den nächsten Parlamentswahlen erscheint im NZZ-Verlag das Buch „Wahlen und Wählerschaft in der Schweiz“. Editiert wurde der Sammelband von Markus Freitag und Adrian Vatter, Direktoren des Berner Instituts für Politikwissenschaft. Präsentiert wird der state-of-the-art in der Schweizer Wahlforschung.

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In der Einleitung schreiben die Herausgeber, die Parteienlandschaft der Schweiz habe sich in den letzten 20 Jahren grundlegend verändert. Sichtbarstes Zeichen sei der Aufstieg der SVP. Damit verbunden hätten sich die prägenden Konfliktlinien des Parteiensystems erweitert; namentlich sei der Gegensatz zwischen einer offenen und verschlossenen Schweiz hinzugekommen. Relativiert worden seien damit die Grundlagen der Parteien aus der Industrialisierung.
In der Tat, das Parteiensystem wirkt heute einerseits postindustriell, anderseits mediendemokratisch. 13 Beiträge, die Freitag und Vatter aufgrund einer Institutstagung zu Beginn des Wahljahres versammelt haben, geben hierzu in unterschiedlich tiefem Masse Auskunft.
Die Herausgeber, vor allem an der Entwicklung der Wahl-Forschung interessiert, haben sie in zwei Gruppen gegliedert: neue Fragestellungen für die Schweiz und neue Befunde zu bestehenden Themen.

Innovationen
Zur ersten Gruppe zählt zweifelsfrei der gelungene Beitrag von Isabelle Stadelmann-Steffen und Karin Ingold zur Entstehung der GLP. Aufgrund eines breiten Materials aus dem Parteiprogramm und Wählerbefragungen suchten sie das Alleinstellungsmerkmal der jungen Partei. Ähnlich wie die bürgerlichen Parteien stünde die GLP sozialen Umverteilungen skeptisch gegenüber; befürwortet würden nur ökologische Steuern, schreiben die Autorinnen. Soziale Investitionen befürworte die Partei ebenso wie die Linke, betone aber die Nachhaltigkeit von Investitionen stärker. In Ökologiefragen stimme die GLP anders als bürgerliche Parteien dem Ausstieg aus der Atomenergie zu, setze dabei, anders als linke Parteien, auf marktorientierte Lösungen. Schliesslich nähme die Partei eine kulturell-liberale Haltung ein; vor allem die Basis werde dadurch geprägt, während die Parteikader mehr Zurückhaltung zeigten. Grundsätzlich fülle die GLP eine Lücke, und dies nicht nur im Umweltbereich. „Negativ ausgedrückt ist die GLP weder richtig grün noch richtig liberal. Positiv ausgedrückt ist sie beides ein bisschen.” Originell ist der Beitrag, weil dieser die Partei mehrdimensional verortet, die Abgrenzung als Definitionskriterium verwendet und dennoch differenziert urteilt. Das drückt sich auch in der Warnung der Autorinnen aus, denn das bewusste Anders-sein-wollen der GLP berge auch die Gefahr in sich, alle denkbaren Allianzpartner aufs Mal zu verärgern, womit die Rolle der Mehrheitsbeschafferin bald einmal infrage gestellt werden könnte.
Die wahlbezogenen Möglichkeiten und Grenzen kleiner Parteien untersucht vertieft Adrian Vatter. Erstmals wird eine Gesamtübersicht über die institutionellen Voraussetzungen der Parteien unternommen. Die massgeblichen Stichworte sind die Wahlkreisgrösse und die Listenverbindungen. Ersteres nütze den grösseren Parteien und schade mit vergleichsweise hohen Eintrittsschwellen der Entstehung kleinerer Parteien. Parteien wie die GPS oder die EVP gehörten zu den Verlierern des föderalen Wahlrechts. Zweiteres, ursprünglich als Ausgleich gedacht, hänge stark von der taktischen Nutzung ab, die Mitte-Links adäquater gehandhabt werde, sodass insbesondere die SVP und FDP regelmässig Sitze verlieren würden. Am meisten überbewertet sei im Nationalrat die SP. Abhilfe ortet der Autor in erster Linie anhand einer Wahlrechtsreform, welche die Disproportionalität verringern würde.
Einen ganz anderen Weg der Wahlforschung beschreiten zwei Beiträge zur Psychologie der Wählerschaft. Gemäss Anja Heidelberger und Rolf Wirz beeinflussen prosoziale Einstellungen die heutige Wahlbeteiligung negativ, Extraversion jedoch positiv. Der Zusammenhang sei zwar nicht direkt; indirekt wirke er sich aber vor allem via ein verstärktes politisches Interesse, gepaart mit Netzwerken, Wissen und Pflichtbewusstsein der Extravertierten aus. Kathrin Ackermann und Markus Freitag wenden die dahinter steckende Typologie der Persönlichkeitsmerkmale auf die Wählerschaften der Parteien an. Verträglichkeit sehen sie vor allem bei der CVP-Basis vertreten, Offenheit für neue Erfahrungen finde sich bei den grünen Wählerschaften, Gewissenhaftigkeit bei der SVP und emotionale Belastbarkeit bei der SP. Die FDP-Wählenden schliesslich sehen sie durch fehlende Prosozialität gekennzeichnet. Die Autorinnen betonen, die psychologischen Eigenschaften der Wählerschaften seien klarer unterschiedlich als die demografischen.
Angefügt sei hier auch der profunde Beitrag von Mathias Fatke und Markus Freitag zur Nicht-Wählerschaft in der Schweiz. Aufgrund übergeordneter Überlegungen identifizieren die Forscher sechs Typen von BürgerInnen, die ihre Stimme bei Wahlen nicht abgeben. Desinteresse, Überforderung und Politikverdruss sind die hauptsächlichen. Ein Drittel der Wahlberechtigten lässt sich so charakterisieren. Weniger häufig, aber erwähnenswert ist zudem die soziale Isolierung als Abstinenzgrund sowie die Präferenz für Volksabstimmungen resp. andere Formen der politischen Partizipation. Namentlich die Mobilisierung der Unzufriedenheit mit der Schweizer Politik vor Wahlen stellt für gewisse Parteien ein Potenzial dar, ihre Stärke zu beeinflussen.

Weiterführungen
Wenn damit im Sammelband programmatische Eigenschaften von Parteien, institutionelle Rahmenbedingungen und Persönlichkeitsmerkmale der Wählenden exemplarisch neu beleuchtet werden, kreist die Mehrzahl der Beiträge rund um die Frage, was die Wahlerfolge der SVP ausmache. Anita Manatschal und Carolin Rapp untersuchen hierfür deren Wählerschaft im Zeitvergleich. Ihr Schluss: Die Partei habe ihre Basis im 21. Jahrhundert auf dem Land, in den unteren Schichten und jüngeren Generationen erweitern können, ohne Verlust der Kernwählerschaft im reformiert-konservativen Milieu. Entscheidend sei die thematische Erneuerung, namentlich die konsequente Anti-EU-Haltung und die Bevorzugung der einheimischen vor der zugewanderten Bevölkerung. Personifiziert worden sei diese Akzentsetzung mit der Figur Christoph Blocher, was den Aufbau neuer Parteibindungen erst ermöglich habe. Unsicher sind die Autorinnen bezüglich der Zukunft, denn die vorhandenen rechten Potenziale seien weitgehend ausgeschöpft, und gegen die Mitte sei mit der FDP eine Konkurrenz erwachsen.
Klaus Armingeon und Sarah Engler nehmen sich im internationalen Vergleich den programmatischen Präferenzen der SVP an. Auch sie stellen fest, die Selektion neuer WählerInnen gelinge der Partei mittels Polarisierung zwischen einer verschlossenen und offenen Schweiz am besten. Die Wählerschaft der Schweiz sei jedoch nicht fremdenfeindlicher als diejenige vergleichbarer Staaten. Die Stärke der SVP basiere darauf, früher als anderswo eine bewusste Strategie der Neupositionierung von oben vorgenommen zu haben, um entstehende Unzufriedenheit gezielt anzusprechen.
Dazu passt, was Daniel Schwarz und Jan Fivaz zum Vergleich von Gewählten und Wählenden schreiben. Gemäss ihrem Elite/Basis-Vergleich legen sie nahe, dass die Parteirepräsentanten heute polarisierte Positionen vertreten als die Wählerschaften. Begründet sehen sie dies im Wissen der Wählenden, dass in der Schweiz keine Partei alleine regieren kann, weshalb man weniger bestimmte Positionen wähle, vielmehr am Ende des Wahlkampfes die gewünschte Richtung akzentuiert unterstütze. Gemeinsam mit Cloe Jans ist der Schreibende den kommunikativen Gründen hierfür nachgegangen. Demnach mobilisiere die SVP wie keine andere Partei ihre Potenziale, weil sie Meinungen der bestehenden Wählerschaften systematischer als andere verstärke und denkbare Wählerschaften besser aufbaue als dies andere Parteien machen würden. Schliesslich sei es der SVP gelungen, mögliche Abwanderungen geeigneter zu verhindern. Hauptgrund seien die lang gezogenen Kampagnen der Partei; auffällig sei der dafür nötige finanzielle Aufwand für Werbung.

Systematisierungen
Erwähnt seien hier noch zwei Beiträge, die einen Beitrag zur Systematik der Ergebnisse aus der Wahlforschung leisten. Maya Ackermann und Sara Kijewski stützen sich dabei auf das gängige, sozialpsychologische Modell der Wahlforschung. Die empirische Anwendung bestätigt die vorrangige Bedeutung mentaler Parteibindungen für den Wahlentscheid. Hinzu kommt die Identifikation via Themenorientierung, die namentlich an den Polen massgeblich ist, und jene über Personenbindungen, die Mitte-Rechts von erhöhter Bedeutung ist. Marc Bühlmann, gemeinsam mit Marlene Gerber, ordnet die Gründe der Parteientscheidungen bei Wahlen in die sozialen Voraussetzungen ein. Betont wird, dass nebst der SVP auch die SP ihre Basis verändert habe. Gelungen sei der Vorstoss in die neuen Mittelschichten, allerdings zum Preis, den Kontakt zur Arbeiterschaft verloren zu haben. Die weiteren Veränderungen sehen die AutorInnen weniger im gesellschaftlichen Wandel begründet, sondern mehr im thematischen Wandel der Schweizer Politik: Hervorgehoben werden dabei die Zuwanderungsfrage und der Ausstieg aus der Kernenergie als Kennzeichen des Wertewandels. Ersteres habe die Parteibindungen rechts der Mitte ausgerichtet, zweiteres links der Mitte.

Bilanz
Der neue Sammelband dokumentiert vor allem die Entwicklungen der Schweizer Wahlforschung. Theoretisch hat sie in den letzten zwanzig Jahren den Anschluss an die internationale Forschung gefunden. Konzeptionell ist sie dabei, die allgemeinen Erkenntnisse auf die schweizerischen Voraussetzungen runter zu brechen. Empirisch wächst die Datenbasis von Wahl zu Wahl auf beeindruckende Art und Weise. Verbreitert hat sich auch die personelle Basis der Wahlforschung, verbunden mit einer thematischen Ausweitung. Das alles sind Verbesserungen. In den Hintergrund gerückt sind aber übergeordnete Fragestellungen der Politik: Was bedeuten Parteien und Wahlen heute? Was leisten sie für das Land, wo versagen sie?
Sicher, der neue Sammelband reflektiert vor allem die Wahlforschung in Bern. Deren Schwerpunkte sind institutionelle Themen, die politische Soziologie und neuerdings auch Psychologie. Politökonomische Fragen genauso wie Medienanalysen, fehlen dagegen weitgehend.
Typisch bleibt auch mit diesem Buch, dass Wahlforschung in der Schweiz die Erforschung von Nationalratswahlen meint, mit ihrem Schwerpunkt bei der Parteienbildung und den Ursachen für den Parteienwandel. Der Erkenntnisgewinn für die ebenso bedeutsamen Ständeratswahlen bleibt dabei zurück. Last but not least, Wahlforschung, wie sie mit dem aktuellen Sammelband dokumentiert wird, ist rückwärtsgewandt. Symptomatisch dafür ist, dass Prognosen für 2015 und darüber hinaus letztlich ganz ausbleiben.
Einige der Beiträge sind in verwandter Form bereits in Tages- und Wochenzeitungen besprochen worden. Nicht immer gelang dabei eine unverkürzte Darstellung resp. Rezeption. Der ausführliche Sammelband bietet Interessierten an der Empirie zu Schweizer Wahlen, ab morgen die Möglichkeit, sich direkt zu informieren.
Der hier besprochene Wälzer ist mit Anhang und Literaturverzeichnissen fast 500 Seiten dick. Wenn diese inhaltlich gelungen erscheinen, kann man das nicht von jeder grafischen Umsetzung sagen; das bleibt denn auch die einzige Schwäche. Dass sich das Buch dennoch schnell verarbeiten lässt, hat mit den strikten Vorgaben für den Aufbau der Beiträge zu tun. Diese erleichtert es Interessierten aus Wissenschaft und politischer Praxis, systematisch die Ergebnis- und Erkenntnisgewinne zu identifizieren. Der strenge Fahrplan für das ambitiöse Projekt hat es zudem ermöglicht, den Forschungsstand just eineinhalb Monate vor den nächsten Wahlen greifbar zu bekommen. Mit Sicherheit ein erster Wahlgewinn(er)!

Claude Longchamp