Denk- und Verhaltensweisen bei Abstimmungen als Folge der wachsenden Internetnutzung

Soziale Stellung und politische Prädispositionen beeinflussen generelle Denk- und Verhaltensweisen bei Abstimmungen. Das ist weitgehend unbestritten. Ein Forschungspapier beschäftigt sich nun mit den Auswirkungen der Mediennutzung. Und folgert: Das Internet hat ambivalent Konsequenzen.


Die Studie

In einer Forschungsnotiz analysieren die Zürcher PolitologInnen Bruno Wüest und Denise Traber die Folgen der Internetnutzung auf Einstellungen und Verhaltensweisen der BürgerInnen. Anders als in vielen Untersuchungen geht es ihnen nicht um Politik an sich, sondern um Meinungsbildung bei Volksabstimmungen. Hierzu verwenden die AutorInnen die VOX-Analysen, genau genommen die konstant gestellte Frage zur Mediennutzung in den Nachbefragungen zu Volksabstimmungen.
Das Hauptergebnis lautet: Die Auswirkungen der Internetnutzung sind ambivalent. Wie bei eigentlich allen Medien, befördert Internetnutzung die politische Partizipation. Doch verändert sie auch Einstellungen, indem sie Politik polarisierter erscheint und mit mehr Misstrauen in die Behördenarbeit verbunden ist.

Der Umbruch der Mediennutzung in Abstimmungskämpfen
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Die Befunde
Zuerst weisen Wüest und Traber nach, dass soziale Faktoren wie Schulbildung und Einkommen unverändert den grössten Einfluss auf politische Einstellungen und Verhaltensweisen haben. Je tiefer die soziale Stellung, desto geringer die politische Involvierung. Das gilt ziemlich generell. Zudem haben Männer ein polarisierteres, Frauen ein zentrierteres Bild der Politik. Auch das ist eine Bestätigung.
An zweiter Stelle rangieren nach Wüest und Traber politische Prädispositionen, allen voran das politische Interesse. Es beeinflusst sowohl Verhaltensweisen positiv, polarisiert aber auch das Politikbild. Immerhin, es befördert gleichzeitig das Vertrauen in die Behördenarbeit ganz allgemein.
Genau da setzen die Folgen der neuen Mediennutzung ein. Die Verwendung amtlicher Informationen, von Printmedien und Radio stärken das Vertrauen. Zentriert wird zudem das Bild, wenn man Informationen der Behörden in die Meinungsbildung miteinbezieht.
Ganz anders beurteilen die beiden ForscherInnen die Wirkungen von Kampagnenmedien, genauso wie die des Internets. Denn sie polarisieren die Bürgerschaft, verbunden mit vermehrtem Misstrauen in ihre Arbeit.

Die Kritik
Die Datenbasis der kleinen Studie ist beachtlich. Miteinbezogen wurden 39 Abstimmungssonntage zwischen 1999 und 2010. Die Fallzahl beträgt so rund 51000 Befragte. Für die Tests kamen multivariate Analysemethoden zum Einsatz.
Trotzdem kann man gewisse Zweifel an den Aussagen im Forschungspaper anmelden. Klar ist, dass soziale Positionen Einstellungen und Verhaltensweisen bestimmen. Weitgehend in Ordnung ist es auch, politische Prädispositionen wie das Interesse an der Politik als Voraussetzung für Denken und Handeln bei Abstimmungen zu bestimmen. Gewagter erscheint es mir hingegen, die Mediennutzung als Determinante von Sicht- und Verhaltensweise zu interpretieren. Denn der Zusammenhang kann genauso gut umkehrt sein: Demnach wären politische Einstellungen wie die politische Position auf der Links/Rechts-Achse oder das Behördenmisstrauen die relevanten Bestimmungsgründe der Medienwahl. Das gilt vor allem deshalb, weil die Internetnutzung zur Abstimmungsinformation weiterhin zurückbleibt, also erst die Innovatoren und frühen Nachahmer erfasst hat, nicht aber den mainstream.

Meine Bewertung
Ich würde deshalb die Wirkungen der Internetnutzung vorsichtiger interpretieren. Belegt ist, dass Kampagnemedien und Internet tendenziell mit klaren politischen Positionen einher gehen, die namentlich auf der rechten Seite von Misstrauen in die Arbeit der Behörden geprägt. Gesichert ist jedoch nicht, was Huhn und was Ei ist.
Bei Kampagnemedien ist die Polarisierung sogar Absicht. Sie sind darauf ausgerichtet, ein Ja oder ein Nein bei der Volksabstimmung zu erreichen. Bei Internet muss das nicht sein. Es mehren sich aber Hinweise, wonach rechte Bürger und Bürgerinnen vermehrt beispielsweise facebook verwenden, linke verstärkt auf Twitter präsent sind.
Spannend und unbeantwortet bleibt meines Erachtens die Frage, ob die Mediennutzung, insbesondere mit der Ausbreitung des Internets als Massenmedium Nummer 1 zur Polarisierung der Politik und zur Beförderung der Kritik an der Behördenarbeit beträgt, und zwar so, dass dies bei Volksabstimmungen von Belang ist. Das wiederum wäre ein weiterer Beitrag zum fundamentalen Wandel der politischen Kultur – weg von der Konsenssuche, hin zur polarisierten und skeptischen Oeffentlichkeit.

Claude Longchamp