Herausgefordertes Verbandslobbying angesichts der Krise des Korporatismus

Mein Referat am Internationalen Verbände-Forum, organisiert vom Verbandsmanagement-Institut der Universität Freiburg, bot Anlass, über grundlegende Veränderungen im Verbandssystem nachzudenken. Hier meine These zum Trend weg vom dominanten neokorporatistischen Arrangement.

Die Politikwissenschaft analysiert politische System und ihre Entscheidungsprozesse unter verschiedensten Gesichtspunkten. In den vergangenen 40 Jahren gehört die Gegenüberstellung von Korporatismus und Pluralismus zu er-kenntnisleitenden den Untersuchungskategorien. Unter den OECD-Staaten bilden Norwegen und die USA die Pole. Korporatistisch meint, dass insbesondere die Wirtschaftsverbände eine starke Stellung in der behördlichen Willensbildung haben; nicht selten geniessen sie eine privilegierte Einflussmöglichkeit auf Entscheidungen, die meist an sozialpartnerschaftliche Arrangements gebunden sind. Pluralistisch nennt man dagegen politische Systeme, die keine Privilegierung bestimmter Interessen kennen, weil deren Einflussnahme dem Wettbewerb der Kräfte, die von ihnen ausgehen, überlassen wird. Präzise muss man in der Schweiz von einem Neokorporatismus sprechen, denn der traditionelle Korporatismus setzt auf Zwangsmitgliedschaften, während der liberale Neokorporatismus auf Freiwilligkeit setzt.

Korpratismus vs. Pluralismus in Europa
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Quelle: Vatter, Politisches System der Schweiz (2014), eigene Darstellung
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Die Schweiz gilt nach dem Standardwerk von Adrian Vatter als gemässigt (neo-)korporatistisch bestimmtes politisches System. Stärker ausgeprägt ist der Korporatismus in Italien, ähnlich in Österreich und Deutschland, schwächer in Frankreich.
Verbreitet ist die These, dass sich der Korporatismus in der Krise befindet. Zahlreiche Analytiker gehen davon aus, dass die entsprechenden Arrangements im Rückgang begriffen sind, derweil die pluralistische Interessenvermittlung wichtiger wird. Das passt zum Wandel des Gesellschaftsmodells, das Richtung Flexibilisierung tendiert, aber auch der Medienlandschaft mit wachsender Konkurrenz. Es fügt sich in die Transformation der hiesigen Konsensdemokratie ein – vom Musterfall zum Normalfall.
Typisch hierfür ist, dass die Parteien in der Politikformulierung an Gewicht gewinnen, hierzulande vor allem über das Parlament und da via den Nationalrat. Gleichzeitig verringert sich mancherorts die Bedeutung des vorparlamentarischen Verfahrens, also da, wo die privilegierten Verbände stark waren. Vereinfacht ausgedrückt verlagert sich der relevante Ort der (Vor-)Entscheidungen von der ausserparlamentarischen Kommission hin zur parlamentarischen.

Ausgehend von dieser generellen Beobachtung stellte sich im Workshop über “Kooperationen im Verbandswesen” die Frage, welche Formen der Zusammen-arbeit für Verbände von Belang sind. In meinem Referat habe ich mindestens vier Typen erarbeitet:
• Erstens, die grundlegende Kooperation besteht gegenüber den Austauschpartnern, sprich jenen Instanzen, die relevante Entscheidungen treffen (können). Vereinfacht gesagt handelt es sich hier um Kooperation als vorbeugende Beziehungspflege. Da findet, grob gesagt, eine Verlagerung von der Verwaltung hin zum Parlament statt.
• Zweitens, die Zusammenarbeit mit Kooperationspartner, sprich Organisationen, die ähnliche Interessen vertreten. Die Kooperation mit ihnen ist konkret und strategisch. Sie soll vorparlamentarische, parlamentarische und nachparlamentarische Entscheidungen sichern. Gemeint ist, dass beispielsweise alle Umweltverbände hierfür kooperieren.
• Drittens, die ad-hoc Bündelung von Interessen, die in einem konkreten Fall optimal Einfluss nehmen. Sie wollen rechtzeitig vorbereitet sein, meist auf einen Aktion hin ausgerichtet, was Flexibilität sichert, ohne von Dauer sein zu müssen. Denkbar ist hier, dass Kritiker der Gentechnologie aus der Landwirtschaft und dem KonsumentInnenschutz zusammenarbeiten.
• Viertens, die Verstärkung durch professionelle Organisationen, die speziell in der Öffentlichkeitsarbeit und der Kampagnenführung eine Expertise haben, denn die Aktionen von Verbänden entwickeln sich vom klassischen Verhandeln mit Verbänden, die gegenüberliegende Interessen ver-treten, zum einem übergeordnetes Campaigning, das in der Lage sein muss, auf unerwartete Konstellationen zu reagieren. Gemeint ist hier, dass professionelle Public-Affairs-Agenturen mit bestimmten Aufträgen angeheuert werden.

Zu diesen vier Stufen gehört auch, dass sich heute Verbände wieder verstärkt an politische Parteien anlehnen. Das bleibt hierzulande zwar zurück, weil das Parteiensystem selber pluralisiert ist und keine Partei eine Aussicht auf die alleinige Mehrheit hat. Die Verbandstätigkeiten gegenüber den Parteien sind aber von wachsender Bedeutung, weil sich immer deutlicher abzeichnet, dass mehrheitsfähige Allianzen von links oder rechts geschmiedet werden, die die politische Steuerung von Entscheidungen an sich im Auge haben.

Korporatismusindex Schweiz (hoch=korporatistisch)
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Quelle: Vatter, Politisches System der Schweiz (2014), eigene Darstellung
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Die Phänomene finden sich auf der Bundesebene verstärkt. In den Kantonen kennen sie aber unterschiedliche Voraussetzungen. Denn auch diese sind durch einen unterschiedlich stark en Korporatismus geprägt. Die Kantone Bern, Waadt und Tessin haben eindeutig korporatistische Züge, gekennzeichnet durch starke und anerkannte Gewerkschaften, zahlreiche Gesamtarbeitsverträge und ein ausgebautes Vernehmlassungsverfahren in der behördlichen Willensbildung. Davon findet man in Kantonen wie Appenzell Innerhoden, Zug, Schwyz und Luzern wenig.

Claude Longchamp

Das gesamte Referat finden Sie hier.