Wahlforschung in Theorie und Praxis – im Wahljahr 2015

Die Vorlesung will Studierende der Politikwissenschaft (oder verwandter Disziplinen) in den Stand der Wahlforschung allgemein und der Wahlanalyse in der Schweiz einführen. So steht es im neuen Vorlesungsverzeichnis der Universität Zürich, und so ist auch mein Plan.

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Das Institut für Politikwissenschaft an der Universität Zürich

2015 ist Wahljahr. In Griechenland, in Grossbritannien – und in der Schweiz! Anlass genug, um über das grosse “www” der Wahlforschung nachzudenken: Wer wählt wen warum mit welcher Wirkung?

Wahlen auf EU-Ebene
Die Wirkungen von Wahlen haben uns die Wahlen in Griechenland gezeigt. Es war kein normaler Machtwechsel. Es war ein eigentlicher Politikwechsel in Sachen Austerität. Und es war ein Zeichen für mögliche Entwicklungen in Spanien oder Frankreich. Denn überall könnte eine neue Linkspartei entstehen, welche die Sozialdemokraten in oder ausserhalb der Regierung konkurrenzieren könnte. In Grossbritannien wiederum könnten die Wahlen im Mai der rechtspopulistischen Ukip zum parlamentarischen Durchbruch verhelfen. Sollten die ersten Wahlerfolge zu einem flächendeckenden Phänomen werden, hätte auch das Konsequenzen für Regierungsbildung und Europapolitik der Briten, wenn auch aus umgekehrter Richtung als die Folgen der griechischen Wahlen. Schliesslich fanden auf europäischer Ebene 2014 Gesamterneuerungswahlen für das Parlament statt. Die Mehrheitsverhältnisse blieben sich im Wesentlichen gleich. Die oppositionelle Rechte wurde aber markant gestärkt. Wenn sie bisher nur bedingt Wirkungen entfalten konnte, hat das auch mit ihrer inneren Gespaltenheit zu tun, bedingt durch nationale Interessen.

Wahlen in der Schweiz
Polarisierung der zentrierten Politik ist nicht nur in der EU, auch in der Schweiz das Leitmotiv der Wahlanalysen in den letzten Jahren gewesen. In den beiden letzten Dekaden hat die unsere Konsensdemokratie einige wesentliche Veränderungen erfahren. Das Parteiensystem ist polarisierter denn je, und es hat sich ausdifferenziert. SVP und SP sind zwar in der gleichen Regierung, bekämpfen sich aber meistens. Mit der GLP und BDP sind neue Parteien hinzugekommen, welche die Allianzbildung in Sachfragen flexibilisiert haben, ohne dass dabei ein neues dominantes Muster der Mehrheitsbildung entstanden wäre. Politologen denken darüber nach, die grosse Konkordanz durch eine kleine zu ersetzen. Das hat Spielräume für neue Volksinitiativen eröffnet, zuerst von ökologischer Seite, dann von rechts, und schliesslich auch in der Mitte, deren Schicksal nicht von Anfang an besiegelt ist. Schliesslich sind Wahlen in der ausgebildeten Mediendemokratie Schweiz von den vielfältigen Mutationen im System der Massen- und Individualmedien betroffen. Nicht nur das Mediensystem ist hybrid geworden, auch die Politik in Stadt und Land ist es.

Wahlforschung in Theorie und Praxis
Die Wahlforschung in der Schweiz hat in den letzten Jahren zahlreiche Fortschritte gemacht: Sie hat sich als Teil der akademischen Lehre und Forschung fest etabliert. Verschiedene Dissertationen und Fachartikel sind entstanden und haben Neues aufgezeigt. Sammelbände zu eidgenössischen Wahlen sind für 2015 angekündigt. An verschiedenen Instituten ist die kritische Masse gut ausgebildeter ForscherInnen entstanden, die sich wissenschaftlichen mit den Wahlen generell, aber auch im eigenen Land stark empirisch interessiert beschäftigt. Ganz offensichtlich sucht man den Anschluss an die internationale Forschungsgemeinschaft, aber auch an die Wahlrealitäten in der Schweiz.
Fortschritte macht die hiesige Wahlforschung aber nicht nur in der Theorie, auch in der Praxis ist das der Fall. Die entstandene Lust gerade junger Forscher und Forscherinnen, sich via Twitter in die öffentliche Debatte über Wahlsysteme der Kantone, Konfliktmuster im Parteiensystem und Medienpräsenzen der Kandidatinen und Kandidaten einzubringen, sind ein untrügerisches Zeichen für Aenderungen im Selbstverständnis der neuen Politologen-Generation. Das verspricht Spannung in einem spannungsreichen Umfeld.

Das Angebot für Bachelor-StudentInnen
Genau solche Ueberlegungen bilden den Rahmen meiner neu konzipierten Vorlesung zur Wahlforschung in Theorie und Praxis. Ausgerichtet ist sie unverändert auf Bachelor-Studendierenden in Zürich. Vorgestellt werden die hauptsächlichen Theorie-Angebote in der Wahlforschung in Politikwissenschaft, Soziologie, Oekonomie, Psychologie und Medienwissenschaft. Präsentiert werden auch die wichtigsten Ergebnisse aus Wahlforschungsprojekten zu Wählenden, Parteien und KandidatInnen. Dabei kommen National- und Ständeratswahlen vor. Schliesslich wird auch die Rolle der Politikwissenschaft im Wahlkampf, in Parteizentralen, im Journalismus und in sozialen Medien diskutiert kommen.
Dabei verfolge ich nachstehende Ziele: Wahlforschung lebendig zu vermitteln; den Stand der Kunst aufzuzeigen, und den Nutzen der Politikwissenschaft vorzuführen, die sich nicht scheut, sich einzubringen. Ich freue mich darauf, heute in 14 Tage mit der Lehrveranstaltung zu den Schweizer Wahlen 2015 starten zu können.

Claude Longchamp