Neuer Trend: zwitschernde PolitologInnen


PolitikwissenschafterInnen auf Twitter werden schnell zahlreicher. Die Wahlen im Herbst bieten ihnen gute Möglichkeiten, sich, ihre Expertise und ihr Fach zu profilieren. Eine Trendanalyse.

Harmlose Anfänge – rasche Entwicklung
Eigentlich begann alles ganz harmlos. Die ersten Schweizer Politologen entdeckten Twitter 2008. Ali, heute besser bekannt als @zoonpolitikon, damals Doktorand an der Uni Genf in Internationalen Beziehungen, dürfte im Februar dieses Jahres der Erste gewesen sein. Im Juni kam mit Beatrice Wertli (@bwertli), heute Generalsekretärin der CVP, als erste Politologin hinzu. Auch sie hatte in Genf Internationale Beziehungen studiert.
Seither hat sich einiges geändert und ist vieles in Bewegung geraten. Genf ist nicht mehr das Ursprung der twitternden PolitikwissenschafterInnen, vielmehr ist Zürich das neue Zentrum. Nach den SpezialistInnen für Aussenpolitik haben auch die ExpertInnen der Innenpolitik den neuen Kommunikationskanal entdeckt. Eine jüngst von Adrienne Fichter (@adfichter), Züricher Politologin, jetzt bei der NZZ als Social Media Managerin tätig, veröffentlichte Liste nennt über 120 Schweizer PolitologInnen, die zwitschern.

Schweizer PolitikwissenschafterInnen auf Twitter, Ranking nach Klout (www.einflussreich.ch)
politos
Bemerkung: Der Klout Score umfasst nicht nur die Zahl der Follower, sondern auch die Intensität der Interaktion und die Präsenz auf anderen sozialen Medien als Twitter
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Voraussetzungen des neuen Trends
Um zu verstehen, was dahinter steckt, muss man drei Voraussetzungen kennen.
Erstens, Politikwissenschaft als akademisches Fach hat sich zwischenzeitlich fast gesamtschweizerisch etabliert. Die Zahl der AbsolventInnen eines politikwissenschaftlichen Studiums ist rasch steigend. Gegenwärtig sind gegen 3000 Personen in einem entsprechenden Studiengang eingeschrieben. Potenzial ist also in grosser Menge vorhanden.
Zweitens, PolitikwissenschafterInnen mit Uni-Abschluss sind heute vermehrt auch ausserhalb der alma mater tätig. Neu geschaffene Berufsfelder sind etwa die Anwendungsforschung, die Beratung von Politik und Medien, aber auch das Lobbying für Verbände und Firmen. PolitologInnen präsentieren sich so vermehrt in innovativen, neuen Tätigkeitsfelder mit Kommunikationschancen.
Drittens, PolitikwissenschafterInnen erobern auch bisherige Berufsfelder. Dazu zählt namentlich die Politik selber, aber auch der Journalismus und die Verwaltung gehören dazu. Die Zahl der PolitikwissenschafterInnen in den Medien und unter gewählten PolitikerInnen ist steigend; sie sind ein Teil der Professionalisierung beider Bereiche geworden. Und auch sie beginnen zu twittern.
Ein vierter Trend wäre die Durchdringung der so differenzierten Politikwissenschaft mit sozialen Medien. Sie ist in vollem Gange. Doch das ist keine Voraussetzung der heutigen Entwicklung; es ist sie selber. Dabei scheint unter den PolitikwissenschafterInnen die Affinität zu Twitter höher zu sein als zu Facebook, sicher aber als zu ausgesprochen visuellen Kanälen wie YouTube oder Instagram.

Einflussreicher als Oekonomen und Juristen, vielleicht auch als Politikerinnen auf Twitter
Was auch immer man von Klout-Rankings hält: PolitikwissenschafterInnen sind gemäss diesem Messinstrument auf Twitter nicht ganz top, aber im Kommen. Als Kollektiv rangieren sie in der Schweiz vor den ÖkonomInnen, wohl auch vor den JuristInnen. Ihr Einfluss ist auch eher grösser als der der PolitikerInnen. Denn diese benutzen in ihrer Mehrzahl Twitter nur als Statement-Kanal, beteiligen sich zu wenig ans Dialogen. Gegen die Spitzenreiter aus Sport, Unterhaltung und Medien, die teils ausgesprochenes Twittermarketin betreiben, kommen die PolitologInnen indes nicht an.
Einflussreichste Politologin auf Twitter ist zwischenzeitlich die bereits genannte Adrienne Fichter. Die Spezialistin für trend scouting ist in der neuen Medienlandschaft hervorragend vernetzt, und sie kennt keine Berührungsängste zur Politik. Mit Luzia Tschirky (@LuziaTschirky)mischt eine weitere, junge Medienschaffende mit politikwissenschaftlichem Hintergrund ganz vorne bei den einflussreichen Politologinnen auf Twitter mit.
Akademische Meriten von PolitikwissenschafterInnen spielen im SoMe-Ranking eine nur untergeordnete Rolle. Elham Manea (@Elhammanea), Privatdozentin an der Uni Zürich, ist unter den festangestellten DozentInnen die einflussreichste. Mit ihrem Schwerpunktthema, dem humanistischen Islam, musste die Autorin lernen, sich ein eigenes Publikum nicht nur an der Uni, auch ausserhalb, zu schaffen. Fabrizio Gilardi (@fgilardi), bestrangierte Professor für Politikwissenschaft an einer Schweizer Universität, folgt erst auf Platz 27.
Teils weit vor ihren DozentInnen liegen einige ihrer Studierenden. Die Vermittlung von politologischem Wissen via Twitter ist nicht zwingend ihr Ding. Eher sind sie wie Luca Strebel (@strebelluca) oder Cedric Wermuth (@cedricwermuth) in einer Partei oder als Politiker tätig. Solchen Organisationen bieten junge, angehende und engagierte PolitologInnen mit Twittererfahrungen neue Chancen.
Die Trendsetter der jüngsten Generation Politikwissenschafter nehmen es dabei durchaus mit etablierten in der Politikforschung oder -beratung auf, aber auch mit Funktionären bei Parteien oder beim Staat. Hier gibt es erheblichen Nachholbedarf. Michael Wicki (@WickiMichael), Politökonomon und zuständig für die eKampa der SP ist hier der Trendsetter, aber auch Politologe Mark Balsiger (@mark_Balsiger) optimiert seine Positionierung als Kommunikationsberater auffällig via Twitter.
Mehr oder weniger durchgesetzt haben sich Blogs von politologischen Instituten (wie der von @gfsbern), Forschungsprojekten (wie der von @smartvote) oder journalistischen Netzwerken (wie @people2power). Einige von ihnen sind kollektiv organisiert, andere haben klar sichtbare Einzelkommunikatoren. Via Twitter vermitteln sie Forschungsergebnisse, verweisen auf eigenen Recherchen oder diskutieren Stärken (und Schwächen) politischen Systems der Schweiz für die halbe (Twitter)Welt. Das beste Marketing unter den Uniinstituten auf mittels Tweets macht das Institut für Politikwissenschaft der Universität Zürich (@IPZuser).

Profilierungsmöglichkeiten für die Politikwissenschaft
PolitogInnen auf Twitter ist ein Gegentrend zur dominierenden Akademisierung des Fachs. Monatelang auf die Veröffentlichung von Kongresspapieren in wissenschaftlichen Journals zu warten, ist nicht aller Leute Sache. Vielmehr ist im Trend, schnelle Feedbacks zu bekommen. Von Fachleuten und Interessierten.
Das alles ist aus meiner Sicht auf die Politikwissenschaft positiv. Dazu gehören auch die meisten Reaktionen auf die Veröffentlichung der Liste von Adrienne Fichter auf Twitter. Rasch angestiegen sind die Abos von anderen Twitterern, die dem Fach und ihren VertreterInnen auf dem neuen Kanal systematisch folgen wollen. Es zählt aber auch dazu, dass die Vernetzung schon jetzt zugenommen hat, wie jene Rückmeldungen von PolitikwissenschafterInnen zeigen, die vergessen gingen, aber ganz gerne dazu gehören wollen.
Es bleibt die Frage nach den Abgrenzungen. Wer soll auf Fichers Liste, wer nicht? Besonders heikel ist, ob das Fach mit multidisziplinären Ansätzen enge oder weite Grenzen hin zu Staatswissenschaften, Ökonomie, Jurisprudenz, Geschichte oder Geografie gezogen werden sollen. Auch der Raumbezug ist nicht eindeutig. Geht es um PolitikwissenschafterInnen in der Schweiz, egal welcher Nationalität sie sind oder um Schweizer PolitologInnen, unabhängig davon, wo sie tätig sind? Typisch für die Ambivalenz sozialer Medien ist schliesslich, dass die Grenze zwischen Öffentlichem und Privatem verwischt wird. So gibt es eindeutige Politikwissenschafter, die via Twitter fast ausschliesslich übers Gamen berichten, während andere, die kaum einen Abschluss im Fach selber vorweisen können, sich als PolitologInnen profilieren.
Wahrscheinlich wird sich das so lösen, wie es für soziale Medien üblich ist: durch die Praxis, die sich aus den neuen Angeboten ergibt und sich nach einiger Zeit dort einpendelt, wo die Angebote auf eine Nachfrage treffen. Kommunikation orientiert sich allein nach diesem Gesichtspunkt. Aber ohne interessiertes Publikum geht heute gar nichts mehr.

Martin Grandjean – der Benchmark
Ein gutes Vorbild in dieser Hinsicht ist der Lausanner Forscher Martin Grandjean (@grandjeanmartin). Der gelernte Historiker hat sich auf die Visualisierung von Sachverhalten spezialisiert. Zum Beispiel von Aufträge des Bundes oder von Lobbyisten zwischen Wirtschaft und Politik. Er kennt sich aber auch mit der Ereignisanalyse aus. So prägte mit einer Grafik und einem Tweet am Sonntag, 9. Februar 2014, eines der gängigsten Bilder zur Volksentscheidung über die Volksinitiative gegen Masseneinwanderung. Demnach stimmte Kantone mit mehr AusländerInnen weniger stark dafür als solche mit weniger Menschen aus dem Ausland. Hauptgrund: Mit 140 Zeichen bediente Grandjean über 15000 Personen und Organisationen in seinem Umfeld – mehr als einige Zeitungen heute Lesende kennen. Das hat ihn, gerade in den französischsprachigen Medien, zur begehrten Ansprechperson und zum interessanten Auskunftsgeber gemacht.
Die anstehenden Wahlen ins Parlament, aber auch in den Bundesrat, bieten den Schweizer PolitologInnen zahlreiche Möglichkeiten, sich, ihre Expertise und ihre Wissenschaft in der Fachöffentlichkeit zu profilieren. Jetzt müssen sie es nur noch packen!
Claude Longchamp