Bringen die Wahlen 2015 mehr oder weniger Polarisierung der Parteienlandschaft? Und was sind die Folgen für die Regierungsbildung in knapp einem Jahr? Zwei Fragen, die mich zum Jahresende beschäftigen, nicht aus dem Moment heraus, sondern grundsätzlich. Wie es sich für die Politikwissenschaft eigentlich immer gehört.
Giovanni Sartori, der grosse italienische Politikwissenschafter, entwickelte vor knapp 40 Jahren eine weit herum anerkannte Typologie der Parteiensysteme in Demokratien, um die Voraussetzungen stabiler Regierung zu bestimmen. Generell unterschied er zwischen Politlandschaften mit zwei oder mehr Parteien. Letzteres nannte er Pluralismus, den er entlang der weltanschaulichen Distanz der Parteien in einen gemässigten und einen polarisierten Pluralismus unterteilte. Schliesslich nannte er auch den segmentierten Pluralismus, bei dem nicht alle Parteien willens sind, mit anderen eine Regierung einzugehen.
Die Schweiz klassierte Sartori als gutes Beispiel für den gemässigten Pluralismus. Vier, auf Dauer angelegte, grössere Parteien bildeten bei beschränkten ideologischen Differenzen gemeinsam und dauerhaft eine stabile Regierung. Viele Politikwissenschafter im Aus- und Inland folgten ihm darin.
Die Polarisierung und Zentrierung des gemässigt-pluralistischen Parteiensystems
Mit seinem Buch über das “Politische System der Schweiz” regte Adrian Vatter Ende 2013 an, die Schweiz neu als Fall für den polarisierten Pluralismus zu untersuchen. Weltanschauliche Divergenzen, Wachstum der Pole in der Parteienlandschaft und Zerfall der Zauberformel spätestens 2007 sah er als Haupt-gründe hierfür. Zum angelsächsischen Demokratie-Modell passt die Schweiz zwar unverändert nicht, denn Föderalismus und direkte Demokratie passen nicht dazu. Doch sind die Veränderungen der politischen Landschaft so bedeutsam, dass sich eine Neubeurteilung aufdrängt. Vor allem die Veränderungen im Verhältnis von Regierungs- und Parteiensystem rechtfertigen es für den Politikwissenschafter, von der Schweiz nicht mehr als Muster-, sondern als Normalfall einer Konsensdemokratie zu sprechen.
Nun wissen wir, dass die Entwicklungen der letzten Jahre nicht linear verlaufen ist. “Abschied von der Polarisierung?”, fragte Politologin Silja Häusermann jüngst. Denn spätestens mit den Wahlen 2011 nahm die Schweiz Abschied vom Polarisierungsmuster. BDP und GLP hiessen die Siegerparteien der neuen Mitte und sie politisierten nicht mehr an den Polen, sorgten vielmehr im Zentrum für neue Allianzen. Die GLP reichte der SVP die Hand, um nach ihrem Ärger bei der Bundesratswahl 2007 in die Bundesregierung zurückzukehren, und die BDP sorgte für die nötige Mehrheit bei der Energiewende.
Studien zum Stimmverhalten der NationalrätInnen legen seit einigen Jahren nahe, wieder von einer Mässigung der Polarisierung auszugehen. Die Grünen waren zwischen 2004 und 2007 als Reaktion auf die Wahl Christoph Blochers besonders weit links, die SVP politisierte nach dessen Abwahl besonders deutlich rechts. Heute stehen die GPS-ParlamentarierInnen wieder etwa dort, wo sie zu Beginn des SVP-Aufstiegs waren, und jene der SVP politisieren in der Mitte wie zu Zeiten, als sie zwei BundesrätInnen hatten. Gemässigt ist der Schweizer Parteienpluralismus damit noch nicht, aber er ist wieder etwas zentrierter als auch schon.
Selbstredend stellt sich die Frage, wohin sich die Schweiz mit den Wahlen 2015 entwickeln wird? Die Bundesratswahlen, aber auch die National- und Ständeratswahlen werden die nötigen Antworten geben. Indikatoren der Entwicklungen sind die Stärke der seit langem erodierenden Parteien der alten Mitte, also FDP.Die Liberalen und CVP, aber auch der neu entstandenen Mitte aus GLP und BDP. Man wird auch darauf achten, ob die Polparteien rechts (SVP) und links (SP, GPS) schrumpfen wie 2011 oder ob es ihnen gelingt, den Trend zu brechen und wieder zu wachsen.
Noch ist es zu früh, hierzu verbindliche Feststellungen zu machen, denn der Wahlkampf befindet sich erst in der Vor-Vor-Phase. Gewichtige kantonale Wahlen stehen an; interessante Volksabstimmungen sind vor der Tür und der Mix aus Themen und Personen, über den im Herbst 2015 auch abgestimmt wird, wirkt noch etwas ungefestigt. Kein wirklich dominanter Trends ist aktuelle auszumachen, wenn man Abstimmungsergebnisse, kantonale Wahlen und nationale Umfragen bilanziert – bis auf den praktisch ungebrochenen Siegeszug der GLP.
Szenarien weiteren Entwicklungen
Am Seminar der Stiftung für eidgenössische Zusammenarbeit, das jeweils anfangs Jahr die RegierungsrätInnen aller Kantone versammelt, werde ich vier Szenarien der Weiterentwicklung unseres Regierungssystems diskutieren:
• den Status Quo mit einem polarisierten Pluralismus und einem Schwer-punkt im Bundesrat der linken Mitte;
• den Status Quo ante polarisiertem Pluralismus und einem Schwerpunkt der rechten Mitte;
• die Rückkehr zum gemässigten Pluralismus und
• den Übergang zum segmentierten Pluralismus.
Letzteres entspräche einem Systemwechsel, denn die Integration von zwei Polen der politischen Landschaft im Bundesrat würde aufgegeben. Entweder hätte die SVP drei Sitze oder SP und GPS kämen zusammen auf diese Zahl. Je zwei würden an FDP.Die Liberalen und CVP gehen. Der Vorteil: Eine klare Ausrichtung der Regierung, was kohärentere Regierungsentscheidungen in zentralen Dossiers wie der Europa-, aber auch der Finanz-, Wirtschafts-, Sozial-, Umwelt- und Energiepolitik erlauben würde. Der Nachteil: Selbst wenn solche Entscheidungen das Parlament passieren würden, wären sie bei Referenden nicht gesichert. Und der desintegrierte Pol würde zweifelsohne vermehrt von der Volksinitiative Gebrauch machen.
Die Rückkehr zum gemässigten Pluralismus sähe eine Regierungszusammensetzung wie bis 2003 vor, allenfalls mit einer Vertretung der fusionierten grünen Parteien zulasten der SP. Gestärkt würde auf alle Fälle die Mitte, am besten mit einer Union aus CVP und BDP. Politische Richtungsentscheidungen wären nicht die Stärke in diesem Modell, pragmatische Lösungen zentraler Konflikte schon. Zwar wäre auch hier mit mehr Volksabstimmungen zu rechnen; doch dürfen sie vermehrt im Sinne der gestärkten Mitte mit zentrierten Lösungen ausfallen.
Der Status Quo ante orientiert sich an der Regierungszusammensetzung zwischen 2004 und 2007. SVP, FDP.Die Liberalen und SP hätten je zwei BundesrätInnen, die CVP eine Vertretung in der Regierung. Der Schwerpunkt läge rechts der Mitte, ohne dass Mitte/Links wirkungsvolle Obstruktion leisten könnte. SP und CVP würden marginalisiert. In Finanz-, Wirtschafts- und Sozialfragen würden im konservativen Sinne geregelt; Energie- und Umweltpolitik kämen ohne Energiewende aus. Schliesslich würde die Europapolitik auf die nationale Kon-trolle der Zuwanderung, auch wenn das nur ohne Bilaterale geht. Achillesferse wäre der nationale Zusammenhalt des Landes, denn insbesondere in den Städten wäre mit abweichenden Präferenzen und vermehrten Konflikten zu rechnen.
Bleibt der Status Quo mit formell bürgerlicher Mehrheit, die aber angesichts der personellen Zusammensetzung und der parteipolitischen Präferenz nur fallweise funktioniert, fallweise aber auch Mehrheiten von links her zulässt. Kohärenz entsteht so nicht unbedingt, denn die massgeblichen Politiken müssten wie heute Stück für Stück ausgehandelt werden. Bei der Energiewende scheint sich der linke Pol durchzusetzen, in Finanzfragen dominiert der rechte unverändert. Zentrales Streitfeld ist und bleibt die Stellung der Schweiz in einer sich ändernden Welt, insbesondere aber Europa- und die damit zusammenhängende Migrationspolitik. Priorität haben aber die Bilateralen, verbunden mit einer Neuregelung der institutionellen Beziehungen zur EU.
Die Frage des Wahljahres 2015
Wie gesagt, das sind nicht mehr, aber auch nicht weniger als mögliche Zukünfte. Die realen entstehen kurzfristig durch das Ergebnis der Parlamentswahlen 2015, denn die wird die unmittelbare Zusammensetzung des Bundesrates bestimmen. Mittelfristig entscheidend wird sein, ob die Polarisierung der Parteienlandschaft gebrochen wird und ein handlungs- und entscheidungsfähiges Zentrum entsteht. Diese wird sich nicht an der alten Konkordanzpolitik ausrichten können, denn deren Zeit ist vorbei. Indes, der heutige Zustand wird unvollendet, mehr als Uebergang, denn als etwas Dauerhaftes. Damit stellt sich auch die Systemfrage, nämlich ob unsere Institutionen den Zwang zur Konkordanz wieder stärken, oder der politische Wille, wie er aus Wahlen entsteht, diese verändert.
Claude Longchamp
Was ich nicht ganz verstehe, ist, dass kaum zwischen Parteiensystem und Regierungszusammensetzung differenziert wird.
Weshalb erfordert eine Rückkehr zum gemässigten Pluralismus eine Sitzverteilung im Bundesrat wie vor 2003? Die weltanschauliche Distanz zwischen den Parteien dürfte doch wohl kaum kleiner werden, wenn der SVP langfristig nur ein Sitz zugestanden wird, oder verstehe ich etwas falsch?
Ich denke, der Punkt geht nur sehr beschränkt an Sie. Richtig ist, dass es keine volle Kongruenz zwischen Regierungs- und Parteiensystem gibt. Jenes ist umfassender, dieses punktueller. Die Parteien bilden in Demokratie ein Teil des Regierungssystems.
Das Regierungssystem kann man nicht auf die Zusammensetzung des Bundesrats resp. auf die Sitzzahl der SVP reduzieren. Vielmehr ist es, grob gesagt, eine Antwort auf die Grundlinien des Schweizer Staatswesens, wie es im 19. Jahrhundert mit dem Föderalismus und dem Bundesstaat bzw. im 20. Jahrhundert mit den Volksrechten und der wirtschaftlichen und politischen Konkordanz entstanden ist.
Die traditionelle Leseweise ist, das die Beteiligung im Bundesrat die Parteien mässigt. Das war nach 1891 bei der KK der Fall, nach 1929 auch bei der BGB. Die zentripetalen Kräfte, die im Schema von Sartori klar angesprochen sind, haben ihre erwartete Wirkung gezeigt.
Die Polarisierung der Parteien resp. der Parteienlandschaft hat die Regierungsbeteiligung aber nicht verhindert. Die Konkordanzwirkungen sind seit den späten 70er Jahren des 20. Jahrhunderts nachlassend: Die Uneinigkeit der Regierungsparteien bei Volksabstimmungen ist massiv gestiegen, auch die Zahle der lancierten Initiativen nimmt zu, und das Phänomen macht nicht einmal vor den Regierungsparteien halt.
Auch die Zahl der BundesrätInnen ist heute kein Kriterium mehr für Mässigung einer Partei. 2003 verlangte die SVP ausdrücklich, der zweite Repräsentant der Partei im Bundesrat müsse die neue SVP repräsentieren; ihre Integration in den Bundesrat ist 2007 (warum auch immer) gescheitert, und ihre Schlussfolgerung, die beiden Bundesräte nicht in die Fraktion aufzunehmen, hat den Prozess noch beschleunigt.
Die Rückkehr zum gemässigten Parteienpluralismus ist kein Ziel, aber ein Szenario. Der Ausgangspunkt liegt eher bei den Parteien als bei der Regierung. Voraussetzung ist, dass sich die Wählerschaft mässigt, auch die Partei, insbesondere die von ihr betriebene Hegemonie im eigenen Pol. Wählerverluste an die Mitte sind der beste Anreiz hierzu, eine nationalen Partei in der Opposition rechts (resp. links) von ihr der sicherste Garant.
Davon sind wir aktuell einiges entfernt. Die Wahl von Albert Rösti als Wahlkampfleiter und der Verzicht auf eine gesamtschweizerische Strategie bei den Ständeratswahlen sind zwar Zeichen einer gewissen Mässigung, denen die Debatte über Volksinitiativen, insbesondere die zur EMRK (allenfalls auch zu den Bilateralen) gegenüber steht. Die Radikalisierung der SVP ist in diesem Thema ein breites mediales und politisches Thema gewesen, nicht ohne Grund.
Mittelfristig will ich eine Aenderung der Parteienlandschaft rechts der Mitte bewusst nicht ausschliessen, weshalb ich auch das Szenario aufgenommen habe.
Im Moment sehe ich eine Doppelvertretung der SVP im Bundesrat eher als Zeichen der Polarisierung nach rechts, weshalb es im entsprechenden Szenario auch Sinn macht. Voraussetzungen hierfür sind Wähler- und Sitzgewinne von SVP (und wohl auch FDP), was 2011 nicht der Fall und wohl erst im Oktober 2015 verbindlich beantwortet werden kann.
Besten Dank für die ausführliche Antwort. Wenn ich Sie richtig verstehe, ist die SVP aus Ihrer Sicht zu radikal, als dass ihre volle Einbindung eine Rückkehr zum gemässigten Pluralismus erlauben würde. Ich sehe das etwas anders.
Einig gehe ich mit Ihnen darin, dass die zentripetale Wirkung des Konkordanzsystems schwächer geworden wenn nicht ganz verschwunden ist. Das zeigt sich exemplarisch daran, dass die SVP nach Erhalt eines zweiten Bundesratssitzes noch deutlich häufiger von Abstimmungsparolen der Regierung abwich als zuvor. (siehe Tabelle hier: https://napoleonsnightmare.files.wordpress.com/2015/01/das-kreuz-mit-der-konkordanz.pdf)
Einig gehe ich mit Ihnen auch darin, dass eine Rückkehr zum gemässigten Pluralismus von den Parteien ausgehen muss. Die Frage ist nur, von welchen. Der tiefe Graben zwischen der SVP und den anderen (bürgerlichen) Parteien hilft der SVP sicherlich, sich zu profilieren. Sie ist aber nicht allein verantwortlich dafür. Der konsequente Mitte-Links-Kurs der Regierung und die verbreitete SVP-Phobie bis hin zu Nazi-Vergleichen leisten ihren Beitrag.
Richtig, die Sitzzahl im Bundesrat ist kein Kriterium für die Mässigung einer Partei mehr. Ich würde sie aber zumindest als notwendige Bedingung sehen. Ich sehe nicht, wie es ohne faire Sitzverteilung zu einer Ent-Polarisierung und zu einer Rückkehr zum gemässigten Pluralismus bzw. zu einem funktionierenden Konkordanzsystem kommen soll.
Der gemässigte Pluralismus verlangt eine Konzentration auf wenige Parteien, die sich nicht unähnlich sind. Erzwungen werden kann er nur mit dem Wahlrecht, das auf Majorz-Elemente setzt.
Aus einer klar positionierten Partei heraus entsteht er unter zwei Bedingungen: zentripetalen Kräften im Wählerverhalten, wenn gemässigte Parteien zur Konkurrenz werden oder radikaleren zentrifugalen Kräfte, die zu einer Partei am Rande des Spektrums führen.
Letzteres hat die SVP national stets zu verhindern versucht, seit sie die FPS in sich aufgenommen hat. Nur in GE und TI ist ihr dieses Kunststück nicht geglückt. Ersteres hängt vom weiteren Verlauf der BDP als (potenzielle) Konkurrenzpartei ab, allenfalls von der FDP/CVP.
Lässt man das Kriterium der Parteienzahl fallen, kann man sich auch eine andere Form von Konkordanz-Regierung vorstellen, wobei SVP und SP aufgrund ihrer Pol-Position nur je einen BR-Sitz bekommen. Eine Fusion der beiden grünen Parteien einerseits, eine Union der CVP mit der BDP anderseits würde die Voraussetzungen schaffen, dass diese Parteien des Zentrums zusammen 5 Sitze hätte, welche für eine starke Mässigung sorgen würden.