Die andere direkte Demokratie

Der Politblog auf Newsnetz wird 5jährig. Hier mein Blog zum kleinen Jubiläum – grundsätzlich gehalten.

Wer hierzulande von Demokratie spricht, meint vor allem die direkte. Und wer von der direkten Demokratie redet, denkt unweigerlich an Volksrechte: Referendum und Initiative sind die Instrumente, mit denen wir die Politik der Behörden bremsen und anschieben.

Direkte Kommunikation statt vermittelte

Mit dem Aufkommen des Cyberspace hat direkte Demokratie weltweit eine neue Bedeutung erlangt. Gemeint ist das, was die Kommunikationswissenschaft etwas ungelenk «Disintermediation» nennt: den Abbau von Vermittlern durch die Internetkommunikation. Denn mit dem Cyberspace brauchen Sender keine hochtrabenden technischen Kanäle mehr, um ihre Botschaften zu kommunizieren. Sie können es, mit einfachen Instrumenten der Kommunikation, häufig selber tun.

Blogs sind ein Kind der 90er-Jahre des 20. Jahrhunderts. In der Schweiz durchgesetzt haben sie sich während der 00er-Jahre des 21. Jahrhunderts. Ihre Zahl, auch ihre Nutzerinnen und Nutzer sind nicht bekannt. Man spricht von 10 Prozent der Internetnutzer, die mit Blogs senden und empfangen.

Nicht alle, die bloggen, sind damit glücklich geworden. Einzelne sind wegen unverzeihlicher Fehler gescheitert – weit über die Blogosphäre hinaus. Andere können sich rühmen, Debatten über den Fallschirm des bestverdienenden Managers in unserem Land angeschoben zu haben.

Bezogen auf die Politik relativiert das die Bedeutung der Repräsentation, wie sie Parlamente, Parteien und Verbände garantieren. Cyber-Kommunikation verstärkt Demokratie nicht per se, denn die direkte Kommunikation ohne Regeln erhöht die Unübersichtlichkeit und verringert die Sicherheit von Verfahren der Entscheidung.

Blogs und Politik
An diese Seite solcher Risiken sind aber unerwartete Chancen getreten. Bundesräte wurden zu Bloggern. Fachleute erörtern mit ihren Kolleginnen und Kollegen relevante Fragen vor Publikum. Thinktanks propagieren ihre umfangreichen Berichte mit knappen Beiträgen, die zum Weiterlesen reizen. Lobbyisten schaffen Vertrauen, indem sie Transparenz über ihr Treiben herstellen. Das alles ist neu, und ohne Cyberkommunikation wäre es praktisch undenkbar.

die Bandbreite der Stimmen, die dank Blogs öffentlich werden, ist heute pluralistischer denn je. Geöffnet wurde auch das Spektrum der Meinungen. Aus Organisationen werden Leader, Sprecher, die etwas zu sagen haben und es mediengerecht kommunizieren können.

Bei weitem nicht alles Neue ist den Bloggern zu verdanken. An ihre Seite sind Facebook und Twitter getreten, beides Instrumente, die recht einfach zu bedienen und mit beschränktem Aufwand zu betreiben sind. Blogs haben aber den Vorteil, dass man ausführlicher argumentieren kann, denn man ist beispielsweise nicht auf 140 Zeichen beschränkt. Und gerade in der Politik sind Blogs weniger auf das Bildhafte und Emotionale fixiert, wie das bei Facebook häufig der Fall ist.

Man kann es auch so sagen: Blogs sind jener Ort der standortbezogenen Kommunikation mit Argumenten und Fakten geworden, der von den agilen sozialen Medien konkurrenziert, aber auch befruchtet wird.

Blogs und Massenmedien
Das Ganze zusammen hat das Mediensystem verändert. Hybrider, sprich gemischter, ist es geworden, sagen uns die Experten der politischen Kommunikation.

Bezogen auf Massenmedien haben Blogs gleich mehrere Funktionen. Zunächst sind sie Mikro-Vermittler zwischen politischen Akteuren und Massenmedien. Sie bereiten neue Geschichten vor, sie speisen vernachlässigte Sichtweisen ein und sie liefern auch mal Fakten, die unterzugehen drohen. Medien wiederum konsultieren Blogs, wenn sie eine Story brauchen, aber auch, wenn sie seriöse Recherche betreiben. Wer etwas zu sagen und schreiben hat, wird so gefragt (oder ungefragt) zur Referenz bei Medienschaffenden – auch ohne dass man jede Woche miteinander telefonieren muss.

Umstritten geblieben sind Blogs als Instrumente der Medien selber. Anfänglich standen die Blogger dem kritisch gegenüber; man fürchtete um Authentizität. Heute machen die meisten mit, wenn sie Angebote erhalten, via Plattformen der Medienhäuser ein grösseres Publikum ansprechen zu können. Geblieben ist die Skepsis, wenn Journalistinnen und Journalisten ihre Blogs nicht Dritten öffnen, sondern dazu gebrauchen, um ihre Artikel, die sich nicht platzieren konnten, auf diesem Weg zu publizieren.

Der Angelpunkt der Diskussion heute sind die Kommentarspalten zu den Blogs. Ohne Regeln, ohne Moderation können sie zum Tummelfeld der Kritik werden, die polemisch und verletzend agitieren kann. Das schreckt ab, denn mit gelebter Debatte hat das nichts zu tun.

Digitale Populismus als Schwachstelle
Die kritischste Form der Blogs in Onlinemedien ist der digitale Populismus. Gemeint ist, dass als Reaktion auf Blogbeiträge häufig in anonymisierter Form hemmungslose Kritik an Politikern oder Politikerinnen und politischen Institutionen geübt werden kann. Denn so entziehen sich die Autoren ihrerseits der Kritik, der Prüfung von Fakten, der Präsentation von Argumenten, die sie widerlegen, aber auch der Verantwortung für das von ihnen Geschriebene.

Die so veranstaltete direkte Demokratie hat kaum mehr etwas damit zu tun, was wir uns alle wünschen: durch Debatten, Argumente und durch Fakten zu qualifizierten Standpunkten zu kommen – wo es zwar kein gesichertes Wissen gibt, aber Einschätzungen über den Moment hinaus fehlerhaftes Handeln verhindern sollen. Mit oder ohne etablierte Volksrechte, aber dank offener Diskussionen auch via Blogs.

Claude Longchamp