Handbuch der Abstimmungsforschung: Auf 480 Seiten (fast) alles Wissenswerte greifbar gemacht

Wer sich bisher einen Überblick über den Forschungsstand zur direkten Demokratie und Volksabstimmungen in der Schweiz verschaffen wollte, griff zum bewährten “Handbuch der Schweizer Politik” und konsultierte die beiden diesbezüglichen Stichworte. Auf zweimal 25 Seiten wurde man in die Institutionen der direkten Demokratie eingeführt. Aufgezeigt wird deren Wirkung auf System und Politik und Fragen wie das Mass an Unterstützungsleistung für Behörden, deren Rolle im Wahlkampf, der Wirkung auf die Mobilisierung bei Entscheidungen werden geklärt.

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Seit einigen Tagen gibt es hierzu eine Alternative: das “Handbuch der Abstimmungsforschung” von Thoma Milic, Bianca Rousselot und Adrian Vatter. Die drei (teils ehemaligen) Berner PolitikwissenschafterInnen legten jüngst ein neues Werk mit dem Anspruch vor, den neuen Standard zu definieren. Das Neue besteht eindeutig darin, auch über Theorien und Methoden der Abstimmungsforschung zu berichten, genauso wie einige ihrer zentrale Anwendungsfelder vorzustellen.

Interessierte erhalten auf diesem Weg erstmals eine Übersicht über sozialstrukturelle Ansätze der Abstimmungsforschung (meist aus der Soziologie) sowie Herangehensweisen, die sich in der Ökonomie respektive der Sozial- oder Kognitionspsychologie empfohlen haben. Auf der einen Seite werden die konzeptionellen Überlegungen, die meist in den USA entwickelt worden sind, vorgestellt – auf der anderen Seite werden exemplarische Tests im Schweizer Kontext besprochen. Das ist, für Schweizer Verhältnisse, innovativ und ein eindeutiger Mehrwert gegenüber dem bisherigen Stand der Dinge. Weil die Abstimmungsforschung vielleicht das einmaligste zur Schweizer Politik ist, gebührt den AutorInnen nur schon dafür ein grosser Dank.

Klassisch aufgebaut ist dagegen der Teil zu den Daten und Methoden, denn er unterscheidet zwischen meist amtlichen Aggregatsdaten und Individualdaten, die mittels Umfragen generiert wurden. Bei beiden Herangehensweisen mischten sich nach dem Urteil der BuchverfasserInnen Lob und Tadel, denn Fehlschlüsse seien bei Aggregatdatenanalysen nicht auszuschliessen und der Motivforschung mittels Umfragen hafte der Vorbehalt an, Rationalisierungen emotionaler und ambivalenter Entscheidungen zu liefern.

Erinnert wird im Handbuch daran, dass die sozialwissenschaftliche Abstimmungsforschung in der Schweiz erst seit den 70er Jahren systematisch betrieben werde. Vorher galt “vox populi, vox dei” bis weit in Kreise aus Politik und Wissenschaft hinein. Das hat sich mit dem Demokratiewandel der Gegenwart, aber auch mit dem Aufkommen der Politikwissenschaft in der Schweiz gründlich geändert.

Zu den offensichtlichen Stärken des neuen Handbuches gehört, dass erstmals eine Geschichte der (akademischen) Abstimmungsforschung mit den wichtigsten Meilensteinen geboten wird. Ausgesprochen wertvoll ist die Bilanz am Ende des Buches, die Ergebnisse und Erkenntnisse resümiert und einordnet. Berichtet wird dabei von positiven Effekten der Volksrechte auf die Bürgerschaft (Informiertheit, Kompetenz und Vertrauen), Gesellschaft (Sozialkapital, Demokratiezufriedenheit, Stabilität, Integration) und Ökonomie (Wirtschaftskraft, Effizienz öffentlicher Güter). Eine Schwachstelle der direkten Demokratie orten die AutorInnen in der paradoxen Wirkung. Denn anders als erwartet, führe sie nicht zur unorganisierten Bürgerschaft jenseits des Parteienstaates, sondern stärke (namentlich in der Schweiz) vor finanzkräftige Interessengruppen, die Kampagnen professionell betreiben. Keine eindeutigen Antworten liefere die empirische Abstimmungsforschung hingegen bei Fragen zum Status-Quo-Bias, aber auch zur Staatsquote, zur Zentralisierung und zur aussenpolitischen Integration. Denn diese Analysen seien ohne normative Rückgriffe mit Einflüssen auf die Antworten nicht machbar.

480 Seiten hat das Handbuch, vom NZZ Verlag unprätentiös und sauber aufgemacht. Gut 50 Seiten mit rund 750 Titeln umfasst alleine das Literaturverzeichnis. 35 Abbildungen, 25 Tabellen und 6 Infoboxen lockern den gut geschrieben, bisweilen aber etwas ausführlichen Text auf. Vermisst wird allerdings das obligate Sachregister, dass es der Leserschaft erlauben würde, jenseits des Inhaltsverzeichnisses gezielt spezifische Informationen zu orten.

Aus meiner Sicht am wenigstens gelungen ist der Teil zu Medien im Abstimmungskampf. Das beginnt auf der konzeptionellen Ebene, denn die innovativsten Theorien zu Wahlen und Abstimmungen finden sich zu Stichworten wie “Mediengesellschaft” und “Mediendemokratie”. Dabei steht die Frage im Vordergrund, wie sich der offensichtliche Medienwandel hin zu einer hybriden Öffentlichkeit mit klassischer Medienarena und neuen Nebenbühnen auswirkt. Dabei geht es um Stimmungen und Emotionen, meist via Personen und Protesten, die verstärkt oder erzeugt werden, um jenseits der Rationalität Angebote zu schaffen, wie man sich entscheiden solle. Erste Forschungsergebnisse hierzu werden leider ausgeblendet, obwohl der Theorieansatz des Buches ansonsten sozialwissenschaftlich und multidisziplinär ist. Das setzt sich darin fort, dass eigentliche Fallstudien zu Abstimmungskämpfen, die seit einigen Jahren rasch an Bedeutung gewinnen, weitgehend unerwähnt bleiben. Irritierend wirkt in diesem Zusammenhang, dass der umfangreiche Sammelband von Kamps/Scholten, anfangs 2014 erschienen, ganz ausgelassen wird. Meine Vermutung ist, dass das Dynamische in der Meinungsbildung zu Volksentscheidungen wesentlich höher ist, als diese aufgrund von Strukturanalysen erscheint, aber auch Ansätzen der rationalen oder weltanschaulichen Entscheidung vorgestellt wird.

Die besprochenen Anwendungsfälle der Schweizer Abstimmungsforschung kreisen denn auch schwerpunktmässig rund um Fragen des Kompetenz- und Kognitionsniveaus der Stimmberechtigten, um die Bedeutung von Parteien und Behörden bei der Steuerung der Meinungsbildung, die Käuflichkeit von Abstimmungen und um Diskriminierungen bestimmter Minderheiten durch Mehrheiten. Das, was Spezialistinnen und Spezialisten weitgehend kennen, aber bisher verstreut in Fachzeitschriften und Sammelbänden diskutiert wird respektive wurde, kommt hier in geraffter Form zur Sprache. Das Bild, das gezeichnet wird, ist eher optimistisch. Wenn es Konflikt gibt, reicht die Information um sich korrekt zu entscheiden. Wenn Entscheidungen knapp sind, kann das Kampagnengeld auf das Ja oder Nein bestimmend sein, aber nur dann. Wenn die Behörden zentrierte Kompromisse anbieten, setzen sie sich in aller Regel durch. Selbstredend hätte man sich hier mehr gewünscht, mehr Informationen zur Frage zu erhalten, ob es heute eine Initiativflut gibt. Oder eine Bilanz, was die Gründe dafür sein mögen, dass Volksinitiativen in den letzten zehn Jahren offensichtlich mehr Annahmechancen hatten. Mindestens aus meiner Erfahrung sind das die am gegenwärtig häufigsten diskutierten Themen in der politischen Öffentlichkeit.

Trotz solcher Einwände: Thomas Milic, Bianca Rousselot und Adrian Vatter legen mit dem Band 2 der Reihe “Politik und Gesellschaft in der Schweiz” ein neues Werk der Schweizer Politikwissenschaft vor, das sich schnell zum Standardwerk entwickeln dürfte. Das Institut für Politikwissenschaft an der Universität Bern festigt hiermit seinen Ruf, Zentrum der Schweizer Politik- und Abstimmungsforschung in der Schweiz zu sein. Denn nach dem Handbuch der eidgenössischen Volksabstimmungen von Wolf Linder und seinen Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen, das historisch-politologisch vorging, folgt nun eine neue, umfassende Übersicht zur direkten Demokratie und zu Volksabstimmungen in der Schweiz. Forschenden im In- und Ausland, aber auch Studierende, die Formen und Konsequenzen etablierter Bürgerpartizipation untersuchen wollen, ist der Gebrauch des Handbuchs der Abstimmungsforschung dringen zu empfehlen. Ob es das Buch weit darüber hinaus ein Publikum findet, ist unsicher. Denn von der Aufmachung und dem Inhalt ist es akademisch ausgerichtet.

So oder so, das Handbuch Schweizer Politik erführt mit dem neuen Manual ein wertvolle Erweiterung. Zu hoffen ist, dass es nicht nur eine Art Bilanz nach knapp 50 Jahren Abstimmungsforschung in der Schweiz darstellt, sondern auch die Forschung im kommenden halben Jahrhundert anregt, theoretisch fundierte und empirisch gehaltvolle Analysen zum wichtigsten und originellsten Bestandteil des Schweizer Politsystems vorzulegen respektive sich neuen Anwendungsfeldern anzunehmen.

Claude Longchamp