Was für und was gegen eine Annahme der Ecopop-Initiative spricht

Manch einer oder eine erschrak diese Woche, als er oder sie las, 53 Prozent hätten am 15. Oktober 2014 der Ecopop-Vorlage zugestimmt. Dabei war nicht einmal diese Zahl das Sensationelle. Vielmehr wäre es der Trend gewesen: 20 Minuten machte schon im Frühjahr eine Umfrage zur Ecopop-Initiative und diese ergab damals einen Ja-Stimmenanteil von 40 Prozent, während 56 Prozent dagegen waren. Das entspricht einem satten Meinungsumschwung von 13 -14 Prozentpunkten innert sechs Monaten. Extrapoliert auf den Abstimmungstag spricht dies für ein Ja in der Grössenordnung von 55 Prozent und mehr.

Für den Trend hin zu mehr Ja-Stimmen gibt es sogar Gründe: Mit seiner Positionierung in Sachen Ecopop diskutierte das Parlament zugleich auch die Ungültigkeitserklärung eben dieser Initiative – und nur kurz darauf empfahl die zuständige Kommission des Ständerats, die Hürden für die Lancierung eines Volksbegehrens zu erhöhen. Beides rüttelte an der tiefen Überzeugung der SchweizerInnen, dass es ihr Recht sei, über alles zu diskutieren und in sämtliche Entscheide mit einbezogen zu werden. Einen Gefallen getan haben sich die GegnerInnen der Initiative mit diesem doppelten Vorgehen nicht.

Ohne jetzt schon einen Trend aufzuzeigen, ergibt die SRG-Umfrage, die heute publiziert worden ist, ein anderes Bild: 35 Prozent votieren für Ecopop und 58 Prozent dagegen. Dies bei einer Beteiligung von 47 Prozent. Die vertiefende Analyse der Daten zeigt Unterschiede entlang der Parteibindungen, des Regierungsvertrauens, der sozialen Stellung und der Siedlungsart. Am meisten BefürworterInnen hat es an der SVP-Basis, bei Personen, die der Regierung misstrauen, in den unteren Bevölkerungsschichten und auf dem Land.

Allerdings zeigt die SRG-Befragung auch, dass die Parteiwählerschaft von GPS bis FDP.Die Liberalen klar gegen das Anliegen ist. Letzteres ist entscheidend: Denn selbst wenn die SVP-Basis gegen ihre Parteispitze stimmt, hängt ein hoher Zustimmungswert in erster Linie von der FDP.Die Liberalen-Wählerschaft ab. Und für ein vermehrtes Ja zu Ecopop in diesen Kreisen gibt es derzeit weder in Umfragen noch unter Mandatsträgern sichtbare Hinweise.

cluster Die Cluster-Methode zeigt, wie abstimmt würde, falls alleine aufgrund von Argumenten entschieden würde. Bei der parteipolitisch ungebunden Stimmenden ist eine Mehrheit möglich.

Ein beliebtes Argument der Anhänger von Online-Umfragen besagt nun, dass im Internet die Meinungen, anders als am Telefon, ungefiltert zum Ausdruck kommen: Soziale Erwünschtheit, die das direkte Gespräch zwischen Befragten und Befragern prägen könnte, gäbe es online nicht. Das stimmt – solange es sich um ein tabuisiertes Thema handelt. Die Migrationsfrage jedoch, gehört seit längerem nicht dazu. So zählt das Sorgenbarometer beispielsweise, diesen Issue seit Jahren zu den nachgewiesenen Top-Problemen aus Sicht der Bürgerinnen und Bürgern.

Allerdings wäre es ebenso täuschend, alleine auf die Parteiparolen zu schauen, denn die sind unisono im Nein und bisher wich keine einzige Kantonalpartei davon ab. Bekannt ist, dass es – gerade in Migrationsfragen – zu einem Elite/Basis-Konflikt kommt. Denn die Bedeutung gewisser Probleme wird “oben” und “unten” unterschiedlich eingeschätzt. Die massgebliche Frage ist nun: Wie gross ist diese Differenz in der Wahrnehmung.

Meine Auffassung hierzu ist, dass sie nicht fix ist, sondern vielmehr davon abhängt, wie sich die Meinungen unter Eindruck des Abstimmungskampfes bilden. Dazu kennen wir im Zusammenhang mit der Migrationsfrage zwei Referenzen, die zu betrachten es sich lohnt: Zum einen die 18-Prozent-Initiative aus dem Jahr 2000, zum anderen die Initiative gegen die Masseneinwanderung vom 9. Februar.

18prozent

Bei der 18-Prozent-Initiative, der radikalsten in der jüngeren Abstimmungsgeschichte in Sachen Zuwanderung, zeigte die erste SRG-Umfrage 40 Prozent Zustimmungsbereitschaft. Am Abstimmungssonntag waren es dann 36.2 Prozent. Das entspricht dem Normalfall bei einem Volksbegehren, denn aus Unschlüssigen werden in der Regel Gegner der Vorlage und selbst ein Teil der anfänglichen BefürworterInnen stimmt am Ende dagegen. Von einem ausgedehnten Elite/Basis-Konflikt konnte man nicht sprechen.

mei

Anders entwickelten sich die Stimmabsichten bei der Masseneinwanderungsinitiative. Die erste Befragung startete bei 37 Prozent Zustimmung und 55 Prozent Ablehnung. Dann aber kam Dynamik in die Sache, bis schliesslich ein Abstimmungsergebnis von 49,7 zu 50,3 für die Initiative resultierte. Das geschah allerdings nicht ohne einen massiven Mobilisierungsschub zugunsten der BefürworterInnen: Die effektive Stimmbeteiligung lag schlussendlich bei hohen 57 Prozent. Profitiert hatten hiervon eben vor allem die Initiantinnen.

Dieses zweite Szenario ist der Ausnahmefall. Es kommt vor, wenn eine Initiative einen klaren Themenführer hat (SVP), der im Abstimmungskampf klotzen kann und von unerwarteter Seite her Unterstützung findet. Das beginnt heute in den sozialen Medien, insbesondere auf Facebook, und übersetzt sich von da in die Boulevard-Medien respektive in die Sonntagspresse, um so zu einer Art Mainstream zu werden.

Nun ist nicht auszuschliessen, dass dies in den kommenden Wochen noch passieren wird. Momentan findet sich aber wenig Evidenz für eine solche Dynamik. Die Ecopop-Initianten sind keine breit anerkannten thematischen Vorreiter und Anführer in der Zuwanderungsdebatte und die SVP als Partei verweigert der Initiative den Sukkurs. Die Werbung zugunsten der Masseneinwanderungsinitiative dürfte jene bei der Ecopop-Vorlage zudem um mehr als das zehnfache übertreffen. Für ein Szenario wie vor dem 9. Februar spricht einzig, dass die InitiantInnen  auf Facebook und in den Online-Kommentaren den Ton angeben – mit beschränkter Gefolgschaft in den Massenmedien.

Seit vier Jahren machen wir in den SRG-Umfragen einen Test zur Messung von Entscheidungsambivalenz. Statt auf die bekundeten Stimmabsichten schauen wir auf die Systematik der Antworten zu den Argumenten. Diese wird mittels einer Cluster-Analyse ermittelt. Im Fall der Masseneinwanderungsinitiative ergab sie zum selben Zeitpunkt wie jetzt vor der Abstimmung ein 50:50. Bei der Ecopop-Initiative liegt der Wert bei 44:56. Das ist höher als bei der Stimmabsicht, die Mehrheit bleibt jedoch weiterhin im Nein.

Die Abstimmungsforschung kennt für solche Befunde sogar die Gründe. Die Sonntagsfrage spiegelt die Heuristik, also die rasche Annahme, wie man stimmen würde. In den Bewertungen der Argumente dagegen kommt die längerfristige Meinung einer Person zu einem Thema zu Ausdruck. Im aktuellen Fall reflektiert sich darin die Kritik an den herrschenden Zuständen, aber auch die Erfahrungen, die die Schweiz seit der Annahme der Masseneinwanderungsinitiative gemacht hat. Das Migrations-Problem besteht, für viele genau gleich wie im Februar dieses Jahres. Das Zeichen dazu jedoch ist, ebenfalls für viele, bereits gesetzt.

Es ist denkbar, dass bei der Ecopop-Initiative hinsichtlich der Dynamik in der Meinungsbildung nicht der Normalfall eines sicheren Neins eintrifft, sondern dass es zum Ausnahmefall kommt – mit einem steigenden Ja-Anteil in der Gegend um die 40 Prozent.

Claude Longchamp