“Willkommen in der Schrumpf-Schweiz!”

Sind wir krank, wie viele behaupten, oder gesund wie manche übersehen? Genau das ist die Fragestellung des neuesten Buches zur Lage der Schweiz, das ich mit Genuss gelesen und Verdruss überdacht habe.

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Botschafter Simon Geissbühler reiste im Sommer 2013 in die USA, wo er mit seiner Familie Kalifornien, Utah, Arizona und New York besuchte. In den Weiten der Landschaften im amerikanischen Westen lernte er das sokrates’sche Nichts kennen, entwickelte er aber auch Gelassenheit. Dabei wurde ihm klar, dass er sein Buchmanuskript, das er schon länger mit sich herum trug, fertig stellen werde.

“Die Schrumpf-Schweiz” heisst das Buch, das aufrütteln will, seit einigen Tagen durch die Schweizer Medienlandschaft geistert, und nun auch im Handel erschienen ist. Den 100 äusserst flüssig geschriebenen Seiten stehen 376 Fussnoten gegenüber. Sie weisen den Autor als guten Kenner der neoliberalen Schriften aus, legen aber gleichzeitig seine Blindheit für spezielle Charakteristiken der Schweiz offen. Denn der Essay, der sich mit dem Sonderfall Schweiz, dem Versorgerstaat und dem schwindenden Individuum beschäftigt, verzichtet ganz auf Schweizer Werke in französischer und italienischer Sprache. Als hätten die verschiedenen Mentalitäten des Landes nicht zu seiner Eigenart, seinem Staatsverständnis und seiner Bürgerdefinition beigetragen.

Vielleicht stört das den jungen Historiker und Politologen gar nicht. Denn am meisten interessiert Geissbühler, was Nobelpreisträger und Oekonom Friederich A. von Hayek über die Schweiz schrieb. Wie die angelsächsischen Länder klassierte der Gründer der Mont-Pélerin-Gesellschaft am Ende des Zweiten Weltkrieges als Hort des Liberalismus, in dem Unabhängigkeit und Eigenverantwortung, Eigeninitiative und lokale Autonomie, aber auch Macht und Autorität herrschen würden. Damit ist These des Buches gesetzt.

Nur gelingt der Nachweis, dass dem in der Schweiz auch so sei, nicht wirklich: Denn vergleichende Statistiken, aus dem World Value Survey gezogen, relativieren das Bild einer besonders wettbewerbsfreundlichen Schweizer Bevölkerung, belegen, dass Menschen hierzulande bei der Arbeitslosenunterstützung weit davon entfernt sind, dem wirtschaftsliberaler Sonderfall zu huldigen, und halten fest, dass Forderungen nach einer Reduktion der Einkommensungleichheiten in der Schweiz bliebter sind als anderswo. Korrekterweise würde man festhalten: Hypothese falsifiziert.

Ganz in Uebereinstimmung mit Pierre Bessard, dem Direktor des Liberalen Instituts in Zürich, sagt der Autor dem so: “Nicht so sehr eine liberale Aufbruchstimmung und Optimismus spiegeln sich in den Einstellungen der Schweizerinnen oder Schweiz, sondern zunehmend Strukturkonservatismus und Neid gegenüber den Erfolgreichen und Gutverdienenden.” Mit Harris Dellas, dem amerikanischen Top-Oekonomen an der Universität Bern, folgert er zudem, die Schweiz solle umgehend angelsächsischer werden.

Ganz ehrlich gesagt: Genau an dieser Empfehlung zweifle ich. Denn der kontinentaleuropäische Staat baut auf andere Traditionen als der amerikanische oder britische. Dem freien Individuum und seinem religiösen Glauben stehen Aufklärung und weltlicher Gemeinsinn gegenüber. Der Staat ist nicht einfach Ausdruck der Mehrheit, die sich im pluralistischen Wettbewerb gewonnen hat. Er basiert auch auf dem Gedanken des griechischen Forums, das erörtert, was für alle Gute ist. Auf die Schweizer Verhältnisse übertragen bedeutet dies, dass der liberale Bundesstaat des 19. Jahrhunderts wegen seiner Instabilität eine mehrfache Korrektur erfahren hat: die Integration der Verbände in den Staat, seine Demokratisierung mit Volksrechten, die Proportionalisierung des Wahlrechts mit seinen weitreichenden Folgen für die Parteienlandschaft und dem Aufbau der Konkordanz, in nichts dem angelsächsischen Vorbild gleicht!

Ich weiss: Botschafter Geissbühlers Message zielt eins tiefer, denn in seinen eigenen Worten analysiert der die Veränderungen in der Tektonik der schweizerischen Politkultur. Seine Kernaussage: Nicht mehr der Ehrgeiz der Innovatoren, vielmehr die Gemütlichkeit der Gesättigten, regiere die Schweiz. Mahnend gefragt wird, wie lange der Motor der Wirtschaft noch laufe, ausrufend beklagt wird der Versorgerstaat von der Wiege bis zur Bahre, und eindringlich verlangt wird eine Neuorientierung des verkommenen Bildungswesens. Damit dürfte der Autor den Beifall jener bekommen, die wissen, wie gut es sich in der Schweiz lebt, aber Angst haben, dem sei bald nicht mehr so.

Beliebt geworden ist diese Deutung nach dem “Ja” des Souveräns zur Masseneinwanderungsinitiative. Wer glaubt, der Liberale Geissbühler geissle auch diese Entscheidung, sieht sich aber getäuscht. Volksentscheidungen wertet der Autor als Legitimation und Kritik der politischen Eliten. Wenn sich eine Kluft zwischen Eliten und Basis öffneten, habe letztere Recht. Immerhin, der Autor verfällt nicht in die verbreitete Tendenz der ganz skeptischen Europäer, seit dem Ende des Ersten Weltkriegs immer wieder das Ende der europäischen Nationen kommen zu sehen. Vielmehr ist er überzeugt, der Hochseedampfer Schweiz gehe nicht unter. Es mehrten sich aber Tendenzen, welche den Titel “Schrumpf-Schweiz” entsprechen würden.

Ganz geglückt scheint mir allerdings auch dieser Beweis nicht. Man kann sogar vermuten, dass der Chefdenker der Schweiz Liberalen, Pierre Bessard, etwas daran an der Skizze des Schützlings zweifelt. In seinem Kommentar zum Buch listet er all die Rankings auf, welche mit hoher Regelmässig die Schweizer Spitzenposition von Fragen des Standortwettbewerbs bis hin zur Demokratiequalität belegen. Ganz im Sinne der Buches zitiert er das gängigste Thema, die Verschuldung des Landes, als denkbarem Sündenfall. Diese habe in den 90er Jahren tatsächlich in die falsche Richtung gezeigt; dank der Schuldenbremse, einer Schweizer Politinnovation, sei es jedoch gelungen, rechtzeitig die Wende einzuleiten: “Die Schuldenbremse ist keine Errungenschaft einer mittelmässigen Schweiz, sondern eher das Erwachen eines Landes, das auf Exzellenz pocht.”

“Bingo!”, habe ich Seite 113 an den Textrand geschrieben. Kurz davor, am Ende des Textes, den der Autor verfasst hatte, nahm ich zur Kenntnis, dass auch Simon Geissbühler alles halb so wild nimmt, wie es der Buchtitel ankündigt, denn das Buch endet ironiefrei mit dem Satz: “So können wir etwas betrübt, aber gleichzeitig mit der angemahnten Gelassenheit sagen: Willkommen in der Schrumpf-Schweiz!”

Claude Longchamp